Donnerstag, 13. August 2020

Einen Vogel haben

Es ist ein frühlingshafter Montagabend. Das Wochenende am Chiemsee sei ein Reinfall gewesen. Mit Erwartungen beladen sei sie hingefahren zu ihren Eltern. Trotz oder wegen Corona. Zum ersten Mal seit einigen Monaten. Enttäuschungen vorprogrammiert. Abends nur Fernsehen. Die Schwester habe gefehlt, es sei ihr zunächst nicht aufgefallen. Durch das geöffnete Fenster seien den ganzen Tag über immer wieder Insekten und Spinnen ins Haus gekommen. Man habe schließlich damit leben müssen, trotz Angst vor den Eindringlingen. Der Vater sei es leid geworden, die Töchter permanent vor dem Ungewissen zu retten. Also habe sich die Schwester traurig in ihr Zimmer verzogen.

Erwartungsvoller Blick. Ich hänge am „traurig“, als mich ein dumpfer Schlag aus meinen Gedanken reißt. Neben mir ein Vogel. Corona-Abstand, etwa 1,5 Meter. Für einen geschlossenen Raum und einen Vogel trotzdem zu nah. Das gekippte Fenster – Aerosolaustausch! – hat den Vogel nicht hindern können, an unserer Sitzung teilzunehmen. Als hätte er uns belauscht und sich gedacht: „Ich zeige euch, was es heißt, wenn das Unbewusste durchs Fenster kommt.“ Es ging ihr nicht gut, der Kohlmeise. Der phobischen Patientin auch nicht. Therapeutische Ich-Spaltung hindert mich an der Flucht. Die Patientin hält sich die Ohren zu – irrwitzig angesichts des müden Fiepens der kleinen Meise. 

Geordneter Rückzug. Therapeutin und Patientin verlassen den Raum. Behutsam findet die Kohlmeise einen Platz auf dem äußeren Fenstersims, gebettet auf einem dünnen HIP-Taschentuch. Die Sitzung geht weiter, jetzt ohne Aerosolaustausch. Auf dem Fensterbrett stirbt vielleicht eine Kohlmeise. Es fühlt sich nicht leicht an.

Aber das Erlebte lässt sich besprechen. Es habe ihr geholfen, dass wir in Kontakt geblieben seien. Sie habe zum ersten Mal bemerkt, dass sie sich angesichts von Angst die Ohren zuhalte. Frühere Erinnerungen kommen hoch.

„Wir sehen uns nächste Woche zur gewohnten Zeit. Hoffentlich zu zweit, ohne Vogel.“ Die Patientin lacht, wird nachdenklich: „Hoffentlich kommt er durch.“ Sie könne gern nach dem Vogel schauen. In dem Moment, in dem die Patientin sich ans hohe Fenster stellt, um den Vogel zu begutachten, löst er sich aus dem Taschentuch und fliegt davon.


Charlotte Schieber
HIP Ausbildungsteilnehmerin Jhg 2017