Sonntag, 23. Juli 2017

Selbsthilfegruppe



... and  stole  a  kiss
in  evr´y  street  café


Es war kein besonderer Tag, eher einer der üblichen anstrengenden Sorte, den du gerne vergisst, um ihn mit schöneren Tagen zu überschreiben, und von dem du, schon im beginnenden Zurückblicken, nicht sicher bist, ob er genug Sinn barg. Ich war auf dem Nachhauseweg, es muss Ende Juni gewesen sein, es war noch sehr hell und seltsam ruhig in der Stadt. Ich ging in Gedanken die Therapiesitzungen des Tages nochmal durch und war weder mit mir noch mit der heutigen Arbeit ganz zufrieden. Weil ich keine Lust hatte, den üblichen Weg zu gehen, drehte mein Unterbewusstsein mittendrin nach rechts ab und ich fand mich in einer Seitenstraße an der Rückseite des kleinen Theaters wieder. Da hörte ich sie. Erst ganz leise, da fragte ich mich, ob jemand sein Radio zu laut eingestellt hatte, doch dann wurde die Stimme lauter und ich erkannte den besonderen Augenblick. Sie sang, ein glockenheller Sopran, offenbar durchs geöffnete Fenster eines weiter oben gelegenen Probenraums. Unten saßen andächtig ein paar Frauen. Alle um die 60 oder älter, einfach gekleidet, einträchtig, ohne sich zu bewegen. Sie saßen unbequem, die Plastiktüte mit den täglichen Einkäufen neben sich abgestellt, teilweise auf dreckigen Mauervorsprüngen, eine angelehnt an einen geparkten Lieferwagen. Sie sprachen nicht, sondern bildeten eine stumme Skulptur. Sechs Frauen, die sich nicht zufällig, sondern absichtlich getroffen hatten, aber ihre Versammlung diente nicht einem Austausch, sondern die zusammengewürfelte, sich vermutlich auch fürderhin fremd bleibende Gruppe war offensichtlich gekommen, um zu lauschen. Ein heiliger Moment. Ich blieb stehen und lauschte auch. Wie schön. Ich bedauerte, dass die Melodie nicht flugs um die Welt ging. Wir denken viel zu oft, Therapie hätte immer etwas mit Therapeuten zu tun.

Doris Normann
HIP - externer Dozentenkreis