Samstag, 24. Juli 2021

Abschied, stufenlos aber ungern

“Da hast du aber nochmal Glück gehabt!”, schien mir schon lange paradox, wo es doch verwendet wird, wenn man in erster Linie ganz schön Pech gehabt hat. Irgendwas wird hier übersehen. Mir scheint, die Glückwünscher wollen sich beruhigen, dem Pechvogel etwas vorwerfen, aber das Pech, das Unglück wird mit einem Ruch von „selber schuld“ weggewischt. 
Ich habe das Gefühl, dass mit dem Trost-Gedicht “Stufen” von Hermann Hesse etwas Ähnliches auf ähnliche Art weggewischt wird. Was ist das für eine Forderung mit “muss” zu einer soldatischen Bereitschaft des Herzens zu Abschied und Neubeginn - ohne Trauer? Wieso muss hier Trauer vermieden werden? Und dann das geflügelte Wort aus den “Stufen”, der “Zauber” des Anfangs, “der uns beschützt” - vor was? Vor der Trauer? Das klingt für mich nach magischem Denken, nach Ungeschehenmachen, nach sanften Worten für ein “Augen zu und durch”. Da wird doch eine Stufe übersprungen?!

Freitag, 9. Juli 2021

Seelenkalender

Ein Abschiedstext erfordert eine Menge Antizipation. Wie ist es, wenn eine Person nicht mehr da ist? Letztlich wird das Fehlende erst dann klar, wenn es tatsächlich fehlt. Und wie in psychischen Strukturen merkt man häufig kaum, dass es da ist, solange es da ist: Die Kohärenz des Selbst spürt man eher, wenn sie beginnt, an den Rändern zu fragmentieren. Die Bedeutung eines Vaters oder einer Mutter häufig erst, wenn sie fehlen.
Frau Normann hat den HIP Blog im August 2016 ins Leben gerufen mit einem Artikel namens „Engels Entdeckung“ und einem auch für diesen Anlass recht passenden Bild, einer Torte mit der Aufschrift „In Memory“. Ganz diesem Artikel folgend mache ich einen Eintrag in meinen „Seelenkalender“ – allerdings nicht in roter Schrift.
Fünf Jahre lang war der HIP Blog unabdingbar mit Frau Normann verbunden. Ich erinnere mich noch, wie Frau Normann mich darauf ansprach, ob ich daran mitwirken möchte. Wenn ich mich recht erinnere, war das beim Sommerfest des HIP 2016. Ich weiß noch, dass mir die Idee gefiel und es mir als eine wundervolle Art erschien, auch aus meinem selbstgewählten Schweizer Exil mit dem HIP verbunden zu bleiben und dazu noch ein wenig „low key“ Texte schreiben zu können.

Sonntag, 4. Juli 2021

Selbstversuch - Überlegungen zur sogenannten Lehrtherapie

Der anregende Beitrag Frau Schiebers zur Rollenverwirrung (vom 26. Mai) hat mich an weitere Rollenkonfusionen erinnert: an die unterschiedlichen, sich vielleicht sogar widersprechenden Delegationen, denen die Lehrtherapie ausgesetzt ist, und an das entsprechende Multitasking der Lehrtherapeuten.
Analytisch orientierte Psychotherapeuten* gehören zu jenen Leistungserbringern unseres Gesundheitswesens, die sich erst selbst ihrem angepriesenen Verfahren unterziehen müssen, bevor man sie auf die neurosengeplagte Menschheit loslässt. Dieses Vorgehen erscheint erkenntnistheoretisch ziemlich revolutionär und wurde von Freud zu Beginn der Professionalisierung der Psychoanalyse ursprünglich mit dem Ziel eingeführt, dass der Anfänger darin „unterwiesen“ werde, die Wirkweise des Unbewussten zu studieren. Außerdem ist das Prinzip ausgesprochen verbraucherfreundlich. Als Schulkind las ich mit Begeisterung die Autobiographie eines Chirurgen mit dem Titel „Selbstversuch“. Dort schildert der begnadete heroische Doktor, wie er sich selbst einen Rechtsherzkatheter geschoben hat. In der körperbezogenen Heilkunde ist so etwas aber die Ausnahme geblieben. Wer will auch schon lernen, wie man sich selbst beispielsweise eine neue Augenlinse einsetzt? 
Bei der Ausbildung zum tiefenpsychologischen oder analytischen Therapeuten wird die zu erlernende Therapiemethode unabhängig vom aktuellen persönlichen Symptomscore an der eigenen Seele durchlaufen. Immerhin muss man sich nicht selbst therapieren, sondern das erledigt der Lehrtherapeut. Man liegt oder sitzt also in der Patientenrolle und begegnet seinen dunklen Ecken, die einen in früheren Lebensphasen bewogen haben, die Psychologie ganz interessant zu finden, und irgendwann später hatte man sich darauf eingelassen und fand da so schnell nicht mehr heraus. Tatsächlich gibt es sehr wenige Abbrecher in der Ausbildung, wenn man das z.B. mit Lehramtsstudenten der Pädagogischen Hochschule vergleicht («Das Studium fand ich toll, aber am Ende wurde mir klar, dass das mit den Schülern nicht so mein Ding ist.»). Auch für die Lehrtherapie selbst ist belegt, dass diese – wie auch ihr ausführlicheres Format, die Lehranalyse – deutlich weniger Abbrüche hervorbringt als ihre genuin therapeutischen tiefenpsychologischen oder analytischen Varianten. Es ist naheliegend anzunehmen, dass die identifikatorischen Bedürfnisse des zukünftigen Therapeuten, in harmonischer Vereinigung mit den apostolischen Impulsen der Lehrer, ihre Überzeugungen weiterzugeben, hierbei am Werke sind. Otto Rank formulierte in diesem Sinne ein damaliges psychoanalytisches Gemeingut: „In der sogenannten ‚Lehranalyse‘ mag es angehen, den Schüler auf der Identifizierungsstufe mit dem Analytiker zu entlassen, da ja das eingestandene Ziel ist, dass er seinem Analytiker ähnlich werde“(¹). Der von Frau Schieber postulierte „Raum, damit das zwischen verschiedenen Über-Ichen (dem eigenen, dem der Supervisor*innen, dem der „Zunft“) eingeklemmte Ich wieder atmen und sich entdecken kann…“ erscheint umso notwendiger, um den zukünftigen Therapeuten aus ödipalen Bindungen zu befreien und mit einem starken Ich auszustatten.
Bei der Bewertung des seit Jahrzehnten kritisch diskutierten Konstrukts Lehrtherapie streiten sich die Geister; die einen meinen, sie sei essenziell, damit die späteren Therapeuten zum Juwel poliert ihr Lebenswerk anträten. Freud ging sogar soweit, Verlauf und Ergebnis als Kriterium einer Berufseignungsprüfung zu erheben, der Lehranalytiker hatte die Funktion des Lehrers und zugleich Prüfers, und ihm sollte diese Form der Lehr-Lernmethode „…ein Urteil ermöglichen, ob der Kandidat zur weiteren Ausbildung zugelassen werden kann“(2)  - ein mittlerweile gottlob überwundenes Leck der Schweigepflicht. Die anderen meinen, das Ganze sei ein bisschen übertrieben und außerdem idealisiert, und wenn jemand eine 1000-stündige Lehrtherapie hinter sich habe (dies war in vielen Instituten der Durchschnitt in den späten 1980er Jahren), bezeuge das eher, dass er ein großzügiges Erbe erhalten habe und/oder besonders neurotisch sei, als dass er nun einem seelengereiften Hochkaräter in stabiler Fassung gleichkomme. 
Bereits bei der Namensgebung herrscht Verwirrung: Die aktuellen Aus- und Weiterbildungsordnungen benutzen das Wort Selbsterfahrung und reihen diese unter dem Oberbegriff der „Handlungskompetenz durch Erfahrung und Fertigkeiten“ ein; führt also Selbsterfahrung zur Handlungskompetenz? Oder ist dies alles doch treffender, wie oft im Jargon zu hören, als Lehrtherapie bezeichnet, und wenn ja, gibt es denn so etwas überhaupt, eine Therapie im Gewand der Lehre?