Montag, 22. November 2021

Abschied - Stufe für Stufe, dann auch gerne

Reaktion auf den Post „Abschied - stufenlos, aber ungern

Der Post zum Thema Abschied hat mich auf verschiedenen Ebenen oder auch Stufen sehr berührt. Viele kennen das Stufengedicht von Hermann Hesse, viele zitieren es bei Verabschiedungen, fokussieren dabei auf die Hoffnung, überspringen jedoch den Abschiedsschmerz, bei sich selbst sowie beim Anderen – man könnte meinen als Versuch, nicht traurig zu sein bzw. die Traurigkeit des Anderen aushalten zu müssen und stattdessen nach vorne zu blicken, auf den „Neubeginn“, z.B. beim Übergang in das Erwachsenenalter. So heißt es in dem Gedicht „Tapfer hörte ich mein Leben rufen“ – also was soll schon passieren mit dem „Zauber, der mich beschützt und mir hilft zu leben“? Über den Verlust des „heimischen“ und „traulichen“ hinwegzuschauen und stets bereit zu sein für „Aufbruch und Reise“, um nicht in „lähmender Gewöhnung zu erschlaffen“, kann Folgen haben, wenn auch zunächst vielleicht nicht sichtbar. Manchmal ist es einem schlichtweg nicht (bewusst) möglich, sich mit seinen Gefühlen auseinanderzusetzen. In einer derart (selbst-)optimierungsgefärbten Gesellschaft funktioniert man eben weiter mit Appellen an die eigene Aufbruchs- sowie Leistungsbereitschaft und hoffentlich daraus folgenden Erfolgserlebnissen, die das Gefühl von Kontrolle vermitteln. Man leistet, nie genug, aber doch genug, um immer mehr zu wollen – bis man irgendwann merkt nicht anzukommen.-

Ich glaube, dass dies einen inneren, einsamen Kampf beschreibt, den vermutlich viele junge Menschen an einer solchen Schwellensituation durchleben. Wohin mit all den Gefühlen des Abschiedes, des Verlustes, des Unklaren mit all dem (vermutlich) noch nicht Verarbeiteten aus Kindheit und Jugend? Viele gehen in die Ferne, um die Ablösung mit einer möglichst hohen Kilometerzahl zu erreichen und das Ihre zu finden. Doch was, wenn das nicht gelingt? Wenn man in der Ferne das „Trauliche“ nicht wiederfindet, aber braucht? Dann braucht man vielleicht doch einen geschützten Raum, der zur „Gewöhnung“ wird, einen Platz für einen selbst und ein Gegenüber, das diese Ohnmacht mit-aushält, das zuhört, glaubt sowie versteht, spiegelt, validiert, also anerkennt sowie bestärkt und somit das Alleinsein weniger allein anfühlen lässt: „Der Grund, warum der Patient sich einen Vater wünscht (und einen Analytiker braucht), ist der, dass er ohne eine befriedigende Beziehung zu einem anderen Menschen nicht zu einem sich entwickelnden Ich werden, sich nicht selbst finden kann.“ (Guntrip 1968, S. 174).

Sonntag, 10. Oktober 2021

Erinnerungen an meine "2. Lehranalyse"

Ich erinnerte mich heute an Wolfgang Loch, den ich mir aussuchte, zu dem ich unbedingt fahren wollte, den ich als Lehranalytiker ausgewählt hatte, für die sogenannte Lehrtherapie, um in einer analytischen Gesellschaft aufgenommen zu werden, und nicht nur das, um auch das psychoanalytische Verfahren in einem komplizierten Rahmen anwenden zu können (Kassenleistung, Weiterbildung usw.).
Ja, und um in bestimmten analytischen Gesellschaften für gut genug befunden zu werden, was mit einer außerordentlichen oder ordentlichen Mitgliedschaft verknüpft sein kann, muss der Lehranalytiker auch in der Gesellschaft anerkannt sein. 
Nun, ich wollte zu Professor Wolfgang Loch, dessen Humor und dazu die fehlende Arroganz eins Auserwählten mich begeisterten. So anders als die meisten Psychoanalytiker, die mir in der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft begegneten. Das ist lange her. Professor Cremerius ausgenommen...
Nun, und heute die Erinnerung an eine wichtige Begegnung mit Professor Wolfgang Loch? Ja, Wolfgang Loch war auch Professor und zuletzt an der Universitätsklinik Tübingen, wo er die Abteilung Psychoanalyse aufbaute. Er war es, der 1971 den ersten Lehrstuhl für Psychoanalyse an einer medizinischen Fakultät erhielt. Aber das war für mich nicht so wichtig, er war für mich ein Mann, der nicht nach Sicherheit in einer Fachsprache suchte. Der sein Erleben auch in einer Arbeitsgruppe in einem Vortrag ernst nahm und manches riskierte.

Samstag, 24. Juli 2021

Abschied, stufenlos aber ungern

“Da hast du aber nochmal Glück gehabt!”, schien mir schon lange paradox, wo es doch verwendet wird, wenn man in erster Linie ganz schön Pech gehabt hat. Irgendwas wird hier übersehen. Mir scheint, die Glückwünscher wollen sich beruhigen, dem Pechvogel etwas vorwerfen, aber das Pech, das Unglück wird mit einem Ruch von „selber schuld“ weggewischt. 
Ich habe das Gefühl, dass mit dem Trost-Gedicht “Stufen” von Hermann Hesse etwas Ähnliches auf ähnliche Art weggewischt wird. Was ist das für eine Forderung mit “muss” zu einer soldatischen Bereitschaft des Herzens zu Abschied und Neubeginn - ohne Trauer? Wieso muss hier Trauer vermieden werden? Und dann das geflügelte Wort aus den “Stufen”, der “Zauber” des Anfangs, “der uns beschützt” - vor was? Vor der Trauer? Das klingt für mich nach magischem Denken, nach Ungeschehenmachen, nach sanften Worten für ein “Augen zu und durch”. Da wird doch eine Stufe übersprungen?!

Freitag, 9. Juli 2021

Seelenkalender

Ein Abschiedstext erfordert eine Menge Antizipation. Wie ist es, wenn eine Person nicht mehr da ist? Letztlich wird das Fehlende erst dann klar, wenn es tatsächlich fehlt. Und wie in psychischen Strukturen merkt man häufig kaum, dass es da ist, solange es da ist: Die Kohärenz des Selbst spürt man eher, wenn sie beginnt, an den Rändern zu fragmentieren. Die Bedeutung eines Vaters oder einer Mutter häufig erst, wenn sie fehlen.
Frau Normann hat den HIP Blog im August 2016 ins Leben gerufen mit einem Artikel namens „Engels Entdeckung“ und einem auch für diesen Anlass recht passenden Bild, einer Torte mit der Aufschrift „In Memory“. Ganz diesem Artikel folgend mache ich einen Eintrag in meinen „Seelenkalender“ – allerdings nicht in roter Schrift.
Fünf Jahre lang war der HIP Blog unabdingbar mit Frau Normann verbunden. Ich erinnere mich noch, wie Frau Normann mich darauf ansprach, ob ich daran mitwirken möchte. Wenn ich mich recht erinnere, war das beim Sommerfest des HIP 2016. Ich weiß noch, dass mir die Idee gefiel und es mir als eine wundervolle Art erschien, auch aus meinem selbstgewählten Schweizer Exil mit dem HIP verbunden zu bleiben und dazu noch ein wenig „low key“ Texte schreiben zu können.

Sonntag, 4. Juli 2021

Selbstversuch - Überlegungen zur sogenannten Lehrtherapie

Der anregende Beitrag Frau Schiebers zur Rollenverwirrung (vom 26. Mai) hat mich an weitere Rollenkonfusionen erinnert: an die unterschiedlichen, sich vielleicht sogar widersprechenden Delegationen, denen die Lehrtherapie ausgesetzt ist, und an das entsprechende Multitasking der Lehrtherapeuten.
Analytisch orientierte Psychotherapeuten* gehören zu jenen Leistungserbringern unseres Gesundheitswesens, die sich erst selbst ihrem angepriesenen Verfahren unterziehen müssen, bevor man sie auf die neurosengeplagte Menschheit loslässt. Dieses Vorgehen erscheint erkenntnistheoretisch ziemlich revolutionär und wurde von Freud zu Beginn der Professionalisierung der Psychoanalyse ursprünglich mit dem Ziel eingeführt, dass der Anfänger darin „unterwiesen“ werde, die Wirkweise des Unbewussten zu studieren. Außerdem ist das Prinzip ausgesprochen verbraucherfreundlich. Als Schulkind las ich mit Begeisterung die Autobiographie eines Chirurgen mit dem Titel „Selbstversuch“. Dort schildert der begnadete heroische Doktor, wie er sich selbst einen Rechtsherzkatheter geschoben hat. In der körperbezogenen Heilkunde ist so etwas aber die Ausnahme geblieben. Wer will auch schon lernen, wie man sich selbst beispielsweise eine neue Augenlinse einsetzt? 
Bei der Ausbildung zum tiefenpsychologischen oder analytischen Therapeuten wird die zu erlernende Therapiemethode unabhängig vom aktuellen persönlichen Symptomscore an der eigenen Seele durchlaufen. Immerhin muss man sich nicht selbst therapieren, sondern das erledigt der Lehrtherapeut. Man liegt oder sitzt also in der Patientenrolle und begegnet seinen dunklen Ecken, die einen in früheren Lebensphasen bewogen haben, die Psychologie ganz interessant zu finden, und irgendwann später hatte man sich darauf eingelassen und fand da so schnell nicht mehr heraus. Tatsächlich gibt es sehr wenige Abbrecher in der Ausbildung, wenn man das z.B. mit Lehramtsstudenten der Pädagogischen Hochschule vergleicht («Das Studium fand ich toll, aber am Ende wurde mir klar, dass das mit den Schülern nicht so mein Ding ist.»). Auch für die Lehrtherapie selbst ist belegt, dass diese – wie auch ihr ausführlicheres Format, die Lehranalyse – deutlich weniger Abbrüche hervorbringt als ihre genuin therapeutischen tiefenpsychologischen oder analytischen Varianten. Es ist naheliegend anzunehmen, dass die identifikatorischen Bedürfnisse des zukünftigen Therapeuten, in harmonischer Vereinigung mit den apostolischen Impulsen der Lehrer, ihre Überzeugungen weiterzugeben, hierbei am Werke sind. Otto Rank formulierte in diesem Sinne ein damaliges psychoanalytisches Gemeingut: „In der sogenannten ‚Lehranalyse‘ mag es angehen, den Schüler auf der Identifizierungsstufe mit dem Analytiker zu entlassen, da ja das eingestandene Ziel ist, dass er seinem Analytiker ähnlich werde“(¹). Der von Frau Schieber postulierte „Raum, damit das zwischen verschiedenen Über-Ichen (dem eigenen, dem der Supervisor*innen, dem der „Zunft“) eingeklemmte Ich wieder atmen und sich entdecken kann…“ erscheint umso notwendiger, um den zukünftigen Therapeuten aus ödipalen Bindungen zu befreien und mit einem starken Ich auszustatten.
Bei der Bewertung des seit Jahrzehnten kritisch diskutierten Konstrukts Lehrtherapie streiten sich die Geister; die einen meinen, sie sei essenziell, damit die späteren Therapeuten zum Juwel poliert ihr Lebenswerk anträten. Freud ging sogar soweit, Verlauf und Ergebnis als Kriterium einer Berufseignungsprüfung zu erheben, der Lehranalytiker hatte die Funktion des Lehrers und zugleich Prüfers, und ihm sollte diese Form der Lehr-Lernmethode „…ein Urteil ermöglichen, ob der Kandidat zur weiteren Ausbildung zugelassen werden kann“(2)  - ein mittlerweile gottlob überwundenes Leck der Schweigepflicht. Die anderen meinen, das Ganze sei ein bisschen übertrieben und außerdem idealisiert, und wenn jemand eine 1000-stündige Lehrtherapie hinter sich habe (dies war in vielen Instituten der Durchschnitt in den späten 1980er Jahren), bezeuge das eher, dass er ein großzügiges Erbe erhalten habe und/oder besonders neurotisch sei, als dass er nun einem seelengereiften Hochkaräter in stabiler Fassung gleichkomme. 
Bereits bei der Namensgebung herrscht Verwirrung: Die aktuellen Aus- und Weiterbildungsordnungen benutzen das Wort Selbsterfahrung und reihen diese unter dem Oberbegriff der „Handlungskompetenz durch Erfahrung und Fertigkeiten“ ein; führt also Selbsterfahrung zur Handlungskompetenz? Oder ist dies alles doch treffender, wie oft im Jargon zu hören, als Lehrtherapie bezeichnet, und wenn ja, gibt es denn so etwas überhaupt, eine Therapie im Gewand der Lehre?

Mittwoch, 26. Mai 2021

Rollenverwirrung. Ein Blick in den Kalender

Sonntagabend. Ein Blick in den Kalender: In der nächsten Woche sechs Patienten, eine Gruppe, eine Einzelsupervision, eine Gruppensupervision, einmal Lehrtherapie, einmal Intervision, ein Seminar, eine Kasuistik. Kein Wochenendseminar, auch keine Gruppenselbsterfahrung, die ist nämlich gerade vorbei.
Was im Laufe der Ausbildung von einem verlangt wird, ist zu Beginn höchstens rational nachvollziehbar. ‚Therapeutische Haltung‘, ‚Regression‘, ‚therapeutische Ich-Spaltung‘, ‚projektive Identifikation‘ – lauter Begriffe, die nach Analyse-Lexikon klingen, aber nicht mit Erfahrungsinhalt verbunden werden können. Die wenigsten wissen, wie sich Regression anfühlt und wie es sich anfühlt, innerhalb einer Woche, oft auch innerhalb eines Tages zwischen so grundsätzlich verschiedenen Rollen zu wechseln, wie sie der Ausbildungsplan vorgibt: Therapeut*in – Supervisand*in – Lehranalysand*in / Lehrtherapiekandidat*in – Kolleg*in – Ausbildungskandidat*in. 

Freitag, 9. April 2021

Wie wir uns geben - II. Die Einrichtung

Angestoßen durch Frau Normanns Artikel über das Containing möchte ich mich in zwei Artikeln mit dem beschäftigen, wie wir uns als Psychotherapeuten geben. Teil eins widmet sich unserer Kleidung, Teil zwei unserer Inneneinrichtung.

Wie wir uns geben - Die Einrichtung

Es gibt ja Bildbände über die Praxen von PsychotherapeutInnen. Wir reihen uns in unserem Stilbewusstsein und unserer nüchternen Sachlichkeit quasi direkt hinter (Innen-)ArchitektInnen, GrafikdesignerInnen und KünstlerInnen ein. So scheinen wir zumindest oft wahrgenommen zu werden – ich wollte uns auf jeden Fall so wahrnehmen. Ich hatte mal einen Bildband mit Fotos der Praxen von New Yorker PsychoanalytikerInnen in der Hand. Wurde auch Zeit. Endlich erkennt jemand, wie stilvoll wir sind. Es war eine leichte Enttäuschung zu lesen, dass der Fotograf selbst Analytiker ist.

Montag, 8. März 2021

Neujahrsempfang - oder: Von Viren- und anderen Übertragungen

Heute, an meinen ersten Arbeitstag im "Neuen Jahr", denke ich an meinen Lehranalytiker, der mir bei der Begrüßung ein "Gutes Neues Jahr" wünschte. Mag sein, ich schaute erstaunt, denn ich hörte die Ergänzung, dass es erlaubt sei, bis zum 7. Januar ein "Gutes Neues Jahr" zu wünschen.

Dass ich mich in der ersten Sitzung in meiner Praxis heute am 7. Januar an den Professor erinnerte, zu dem ich nach Tübingen reiste, um noch eine „richtige Lehranalyse“ zu absolvieren, erstaunt mich. Das ist lange her, und sicher gibt es hier noch eine unaufgelöste Übertragung. Aber was ist Übertragung? In der Psychoanalyse kann es sich um die Wiederholung infantiler Vorbilder handeln, die in einer Beziehung mit einem besonderen Gefühl von Aktualität erlebt werden kann. Und habe ich vielleicht vor vielen Jahren gedacht, der Lehranalytiker solle mir doch nicht auf solch persönliche Weise ein „Gutes Neues Jahr“ wünschen, wo bleibt da die „Abstinenz“? Hat er das an meinem Blick gemerkt? Deswegen die prompte, eher humorvoll unterlegte Erklärung des Professors?

Sonntag, 14. Februar 2021

Hilflosigkeit, Resignation und das große „Trotzdem!“

Erfahrungen einer Psychodynamikerin im Klimaaktivismus

Vor ungefähr zwei Jahren, wohl mit der steigenden medialen Präsenz der Fridays for Future-Proteste, begann meine Abwehr zu bröckeln und mein Unbehagen angesichts des nahenden Endes der Welt wurde drängender. Als eine Kollegin mir dann vorschlug, sie zum nächsten Treffen der neugegründeten Scientists for Future (S4F) Heidelberg zu begleiten, kam mir das natürlich gelegen. Was könnte ich meiner Angst und meinem sich ebenfalls leise meldenden Schuldgefühl Besseres entgegensetzen als Aktivismus? 


So wurde ich Mitglied von S4F Heidelberg, einem Zusammenschluss von Heidelberger Forschenden, die die 4 Future-Bewegung von Seiten der Wissenschaft zu unterstützen suchen. In unserem E-Mail-Verteiler sind über 100 Menschen, zu unseren Treffen kommen im Schnitt vielleicht 12. S4F Heidelberg versucht, sich mit Vortragsreihen, Infoständen, Onlineaktionen oder Briefen an die Bunderegierung für mehr Klimaschutz einzusetzen, immer wieder ausgerichtet am großen Ziel der Emissionsreduktion. Im Plenum geht es
mal um technische Lösungen von der Entwicklung neuer Apps bis zum Umbau energieineffizienter Universitätsgebäude, mal um Aufklärungs- und Bildungsarbeit. Und das macht Sinn. Und all das sollte, muss getan werden. Und dennoch wurde ich mein Unbehagen nicht so richtig los.

Ohne dass ich es direkt hätte benennen können, entwickelte sich in mir das Gefühl, dass mir bei dieser Art der Auseinandersetzung mit der Klimakrise etwas fehlt. Temperaturkurven, Solarenergie und den Kohleausstieg zu diskutieren, schien mir merkwürdig unverbunden mit der katastrophalen Lage, in die sich die Menschheit manövriert hat. Irgendwann in dieser Zeit hörte ich in einem der vielen Klimaschutz-Podcasts ein Interview mit dem Journalisten Dahr Jamail, der die letzten Jahre damit verbracht hatte, ein Buch über die verheerenden Folgen der Klimakrise zu schreiben. In diesem Interview erzählt Jamail, wie er kurze Zeit zuvor einen guten Freund auf dem Sterbebett begleitet hatte und zieht Parallelen zu seiner persönlichen Auseinandersetzung mit der Klimakrise. Er spricht von den Ärzten, die immer wieder am Bett des Sterbenden auftauchen, Blutwerte berichten und neue lebensverlängernde Maßnahmen vorschlagen, dabei aber unverbunden mit der emotionalen Schwere des Moments bleiben. Er spricht von Trauer, Präsenz und von Unerschrockenheit und zum ersten Mal hörte ich, wie jemand, der sich auf die emotionale Tragweite der Situation eingelassen hat, über das Ende der Welt, wie wir sie kennen, sprach - über die Zerstörung von Leben und von unserem Zuhause. Ich stand weinend auf dem Bahnhofsvorplatz in Mannheim und glaubte, etwas verstanden zu haben.

In der Klimabewegung wird der „Gegenseite“ häufig Verdrängung oder gar Verleugnung vorgeworfen. Aber wenn wir ehrlich sind, ist bei diesem Thema kaum jemand frei von Abwehr. Dass wir lieber über Möglichkeiten der Emissionsreduktion sprechen als über unsere Angst vor den tatsächlichen Auswirkungen der Erderwärmung auf unsere Zukunft, dass wir lieber noch eine Arbeitsgruppe zur Nachhaltigkeit an der Uni gründen, um nicht dem Gefühl der Machtlosigkeit ausgeliefert zu sein und dass wir lieber auf Facebook hitzig mit „Klimaleugner*innen“ diskutieren, anstatt uns mit unserer eigenen Schuld zu konfrontieren, all das ist ein fettes Abwehrgeschehen. Ich nehme mich da selbst nicht aus. Aber gleichzeitig bin ich auch Psychodynamikerin und der Meinung, dass uns solche Mechanismen, so wichtig sie für das psychische Funktionieren sind, auch unfrei machen. Sie zwingen uns zum Abspalten und Abwenden und nehmen uns die Chance, uns bei den Händen zu fassen und mit offenen Augen und Herzen in den Abgrund zu schauen. Und wenn mir meine Gruppenselbsterfahrung eines gezeigt hat, dann wie wichtig und heilsam genau das sein kann.

Vielleicht könnte das meine Aufgabe sein? Ich hatte mich bei S4F immer wieder gefragt, was ich mit dem, was ich kann, wirklich Sinnvolles beitragen kann. Ich verstehe eigentlich kaum etwas von Klimaforschung oder wie politischer Aktivismus funktioniert. Selbst bei den Themen, die mir als Psychologin zugeschrieben werden wie Kommunikation oder Motivation zur Verhaltensveränderung, habe ich, wenn ich ehrlich bin, auch das Gefühl zu improvisieren. Aber mit abgewehrten Emotionen und wie man sie aushält, wie man ein Gefühl der Verbundenheit herstellt und einen Raum schafft, in dem Offenheit mit sich selbst und anderen möglich wird, damit kenne ich mich deutlich besser aus.

Während der Week for Climate 2019 bot sich dann eine Gelegenheit, meine Idee umzusetzen. Gemeinsam mit einem Freund und Kollegen entwickelte ich einen Workshop zur „emotionalen Auseinandersetzung mit der Klimakrise“. Und es kamen tatsächlich auch ein paar Leute, Klimaaktivistinnen, Neugierige und ein paar, die wohl eher so aus Versehen bei uns gelandet waren. Entsprechend spannend war es dann auch zu beobachten, was in dieser Gruppe passiert, wenn man sich zwei Stunden Zeit nimmt, um über die Klimakrise und ihre Bedeutung für das eigene Leben nachzudenken. Ein Teilnehmer war sich nicht so sicher, was die Klimakrise eigentlich bedeutet und erzählte, dass er eigentlich schon froh sei, wenn er es jeden Morgen pünktlich in den Zug und durch den Tag schaffe. Um so beeindruckter war er später, als die Teilnehmerin neben ihm aus dem Fenster auf den Wald und die Berge blickte und zu weinen begann. Ein anderer Teilnehmer erzählte von dem grausamen Gefühl, völlig allein mit seiner Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung angesichts des Zustands der Welt zu sein und zum Schluss von seiner Dankbarkeit, als er merkte, dass er es nicht war.

Seitdem habe ich den Workshop noch zweimal für Menschen von S4F Heidelberg angeboten. Beim ersten Mal erinnere ich mich vor allem an Suchbewegungen in der Gruppe: Wie viel will ich von diesen Gefühlen eigentlich überhaupt zulassen? Macht uns das nicht handlungsunfähig? Gleichzeitig wurde bei manchen Resignation und sogar Zynismus spürbar, als es darum ging, wie die Klimakrise sich wohl auf unsere Zukunft auswirken würde. Wir fantasierten über Öko-Kommunen und lachten darüber, wie unvorbereitet wir dafür wären, in einer durch Krieg und Umweltkatastrophen zerfallenden Welt zu leben. Das Wichtige blieb aber zum Schluss das „große Trotzdem“, das Weitermachen und sich nicht der Hoffnungslosigkeit hinzugeben. Beim zweiten Mal war es anders. An Corona hatten wir gesehen, wozu die Welt und die Politik fähig war, während der Regenwald seit Wochen brannte, ohne dass es jemanden zu interessieren schien. In der Gruppe ging es um Hilflosigkeit, Wut und um unsere Schuldgefühle. Und nein, es endete nicht in dem gemeinsamen Gefühl, dass wir doch noch was bewegen können, sondern im gemeinsamen Aushalten, dass wir es nicht können.

Je nachdem, wem ich davon erzähle, kann es passieren, dass mein Gegenüber es für unproduktiv bis gefährlich hält, einen Raum für Hilflosigkeit und Resignation im Kontext der Klimakrise zu schaffen. Die Sorge dabei ist, dass die Menschen dann aufhören könnten, sich zu engagieren. Aber müssen wir an unserer kollektiven Verleugnung festhalten, damit es überhaupt weitergehen kann? Ich will zumindest hoffen, dass das nicht der einzige Weg ist. Aber dafür muss es in uns und um uns Räume geben, in denen man sich an diese Gefühle heranwagt, sie anerkennt und aushält. Im besten Fall ist es danach vielleicht möglich, ein bisschen klarer zu sehen und dann vielleicht freier zu entscheiden, was man mit der Zeit, die bleibt, anfangen möchte und wer man in der Welt, wie sie ist, sein will. Und ist das nicht auch das, worum es bei Psychotherapie geht?

I would suggest that, with the right quality of attention, we may come to know what is right for us as individuals, and what we can usefully do. This doesn’t mean that all will be well. All will not be well. It doesn’t mean we will necessarily end up any less confused or conflicted, either. It doesn’t mean we will never again experience the despair of knowing what we have done and what we are still doing and of all the things we are losing and can never bring back.

But it does mean, or it could, that we are able to hold those feelings within us, to understand them and maybe reconcile them. It does mean that we can be done with denial and projection and false hope and false hopelessness. If we sit with the earth, with the trees and the soil and the wind and the mist, and pay attention, we may know what to do and how to begin doing it, whatever burden we carry with us as we walk.”

Aus „The Witness“ von Paul Kingsnorth


Nelly Monzer, Ausbildungsteilnehmerin Jhg. 2017

Montag, 11. Januar 2021

Wie wir uns geben - I. Die Kleidung

Angestoßen durch Frau Normanns Post über das Containing möchte ich mich in zwei Artikeln mit dem beschäftigen, wie wir uns als Psychotherapeuten geben. Teil eins widmet sich unserer Kleidung, Teil zwei (folgt...) unserer Inneneinrichtung.

Wie wir uns geben - Die Kleidung 

Es ist ja schon tragisch, dieser Mangel an Statussymbolen. Wie oft wünschte ich mir das vergoldete Stethoskop eines Allgemeinmediziners! Die eigene Legitimation, quasi Größe, so sichtbar zu tragen - einmal so wundervoll phallisch sein dürfen! Leider gibt es keine Stethoskope für die Seele. Vermutlich müsste es eher das vergoldete Utensil eines Klempners sein, um den häufig verwendeten Vergleich zu bemühen. So eine goldene Rohrzange der Seele würde mir schon gefallen. Für uns bleibt nur so etwas wie stilvolles Schreibutensil (die Kladde ist ja schon filmisch vor allem mit den PsychologInnen verbunden) oder eben: Kleidung und Einrichtung. 

Hierzu ein paar Gedanken und Beobachtungen, welche dem Axiom unterliegen, das wir so gern in unseren Sitzungen anlegen: Nichts ist zufällig.

Zunächst einmal sind wir ja nicht die einzige Berufsgruppe mit dem Problem. Ein schwarzer Rollkragenpulli, eine Baskenkappe und filterlose Gauloise machen ja auch keinen Philosophen. Mode hat ja vornehmlich den Sinn, eine Gruppenzugehörigkeit auszudrücken: Du bist, was Du trägst. Und so gibt es auch unter PsychotherapeutInnen immer wieder Versuche, sich in irgendeiner Art und Weise kenntlich zu machen als der einen oder anderen Gruppierung zugehörig.

Dabei geht es natürlich um mehr als darum, sich als PsychotherapeutIn zu zeigen, meist wollen wir auch noch zeigen, was für eine PsychotherapeutIn wir sind. In Zürich habe ich beispielsweise den Begriff der Analytikerbrille kennengelernt – und wirklich, es ist ganz erstaunlich, wie viele der psychoanalytisch tätigen KollegInnen zu mehr oder weniger runden Brillen neigen. Weltmännisch/frauisch wirkt hierbei die etwas dickere, schwarze Variante, oft kombiniert mit perfekt schwarzer Kleidung (die bei mir selbst nach drei Wäschen nicht mehr so aussieht, sondern mehr in ein gemustertes Anthrazit übergeht – für Tipps diesbezüglich wäre ich sehr dankbar). Besonders elegant erscheint mir das bei bereits ergrauten KollegInnen. Von einem Supervisor hörte ich einmal die schöne Geschichte von dem Kollegen, der sieben exakt gleiche Outfits hatte, damit die analytische Situation in keinem Fall gestört werde. Für jeden Tag dieselben Schuhe, dieselbe Hose, Hemd, Jackett und was nicht noch…
Dann gibt es die Funktionskleidungsträger (Frau Normann beschrieb sie vor allem mit Blick auf die Wanderschuhe). Generell erscheint es mir als Großstädter merkwürdig, gekleidet zu sein, als wollte ich jeden Moment zu einer zehntägigen Trekking-Tour starten. Aber vermutlich geht es hierbei nicht so sehr um das Wandern als mehr um die Aussage, dass mir Mode nicht so wichtig ist. Das Nützliche, Bequeme ist wichtiger. Sie zeichnen sich auch durch den Verzicht auf die Betonung des eigenen Geschlechts aus: In zweieinhalb Lagen atmungsaktiven Stoffs sind wir alle gleich. Bereit anzupacken und nicht unter dem Primat gesellschaftlicher Normen stehend! 

Eine Extremform dessen erscheint mir, was ich noch aus Encountergroups und von eher humanistisch geprägten TherapeutInnen kenne: Nicht so sehr Funktionskleidung; das Anpackende und Resolute wirkt abgeschwächter und der Aspekt der (kindlichen?) Bequemlichkeit mehr im Vordergrund: Weite Hosen, vielleicht etwas Filz und die merkwürdigsten Schuhe, die ich jemals sah. Vielleicht etwas sämisch wirkend, irgendwie indigen. 

Spannend erscheint mir vor allem, was das mit dem Männer- und Frauenbild macht. Bei den amerikanischen Kongressen habe ich einmal eine Vortragende erlebt, die über die Behandlung von essgestörten jungen Frauen referierte. Sie war sicherlich an die 60 Jahre alt und hatte einige „Kleinigkeiten machen lassen“: Straffe Gesichtshaut, auffällig volle Lippen und einiges mehr. Hinzu kamen Bluse, Blazer und ein kurzer Stiftrock zu hohen Schuhen. Ein Gegenbild zur Biederkeit der alten Welt, ein Affront im Angesicht aller trekkingbereiten KollegInnen, die mich begleiteten.

Wie so oft in der Tierwelt sind die Männchen meist unscheinbarer als die Weibchen. Seien wir ehrlich: Männermode ist immer eine traurige Sache. Meist scheint hier in der Ausbildung der Trend zum Jackett zu gehen. Anzüge wären auch affig. Aber Jacketts verleihen einen Hauch von erwachendem Selbstbewusstsein und zeigen den Versuch, seriös wirken zu wollen. Ich selbst bin darauf hängen geblieben: Mal „sportlich“ mit Jeans, mal seriöser mit Stoffhose.

Unter den eher wissenschaftlich orientierten Kollegen, worin ich das HIP einschließen möchte, scheint auch längerfristig die Hemd-Pullover-Kombi beliebt zu sein und man darf sich fragen, ob das in Abgrenzung zum „blue collar worker“ gedacht ist.

In den letzten Jahren bemerke ich bei mir selbst so eine Art Vergammlung: Ich ertappe mich, in meinem Sessel sitzend, mit einem streifig gewordenen, mittlerweile mehr anthrazitfarbenen als schwarzen Pulli (an gewagten Tagen ist er sogar dunkelgrün) und einer Jeans. Die Lederschuhe habe ich auch schon lang nicht mehr angehabt, aber wenigstens sind meine Sneaker noch schön weiss, um zu zeigen, dass ich in einer Großstadt lebe und weiß, was vor zehn Jahren (waren es zehn?) mal hip war. Ich habe immer noch ein paar Jacketts. Eins aus Tweet mit Ärmelschonern, das ich sehr liebe. Aber ich ziehe es seltener an. Eher, wenn ich Vorträge halte – wie die Tarnkappe der Märchen oder ein anderes, magisches Artefakt, dass meinen Worten mehr Gewicht verleiht und es mir ermöglicht, auch bei Unsicherheit ein wenig den Charme der Zugehörigkeit zu den Seriösen zu versprühen. Etwas Schutz kann ja nicht schaden…

Eigentlich schade, dass es nicht mehr Queeres, Buntes, Aufregendes gibt. Als würde ihm noch immer der Dünkel der frühen Störung anhaften. Den eh schon immer abgedroschenen Spruch, dass uns nichts Menschliches fremd sei, strafen wir durch unsere Kleidung Lügen.

Jan-Erik Grebe
HIP-Dozentenkreis
ehem. Jhg. 2010