Mittwoch, 9. Januar 2019

Abstinenz? Ein weites Feld!


Corpus delicti


Große Worte bei Sigmund Freud, dem ich meine anhaltende Freude an der Psychoanalyse verdanke. Aber "Freude" sollte die Arbeit mit Patienten, die ja leidend kommen, vielleicht nicht bereiten (dürfen)? Schon der Verdacht einer Abstinenzverletzung?
"Nicht nur", schreibt er 1915, "bleibt für den Psychoanalytiker das Nachgeben ausgeschlossen, sondern der Analytiker sollte den Patienten dahin führen, das Lustprinzip zu überwinden und auf die sofortige Befriedigung zu verzichten, zugunsten einer anderen weit entfernteren, von der in jedem Fall gesagt werden kann, sie sei überhaupt unsicherer". Und dann noch 1918: "Die Kur sollte so weit wie möglich in der Entbehrung - Abstinenz - durchgeführt werden."
Nun, was geht die Tiefenpsychologen die Psychoanalyse und dann noch Sigmund Freud nach so viel Jahren an?? Reichlich viel, und ich versichere, es ist lohnenswert, ihr einen Platz im psychotherapeutischen Leben einzuräumen. 

Heute habe ich wahrscheinlich die schlimmste Abstinenzverletzung meiner ganzen Tätigkeit als Psychoanalytikerin  begangen.
Ich versuche, den Ort des Geschehens und einige vielleicht aufhellende Elemente der Begegnung mit der 75-jährigen Patientin Frau A., die seit vier Jahren zu einer Sitzung wöchentlich aus einem 40 km entfernten Ort mit der Deutschen Bundesbahn zu mir kommt, einer Sitzung vom 21.11.18, zu erinnern.  Die ehemalige Finanzbeamtin* geht den nicht so kurzen Weg vom Karlstor in die Altstadt und....das ist die Besonderheit: Sie klingelt in der Regel schon um 13.15 Uhr, und ich lasse sie in dem kleinen Wartebereich vor meinem Behandlungszimmer sitzen. Ihre Sitzung beginnt seit Jahr und Tag um 14 Uhr. O Gott, das ist sicher "Agieren" und damit auch eine Abstinenzverletzung. Wer weiß? In diesem kleinen Vorraum mit einer Menge Büchern (schon wieder eine Verletzung der Regel!!) möchte sie sitzen. Nicht im Gruppenraum, hier habe ich schon die Couch angeboten. Nicht zum Liegen, hier wird gesessen, eben in der Gruppe. 
Nein, in den großen Raum, das möchte sie nicht.
Für heute war nach langem Reden (mit Kärtchen und Eintrag) eine Sitzung für dauerhaft um 10 und nicht um 14 Uhr vereinbart worden. Wer nicht kommt, ist Frau A. Um 13:15 klingelte sie. 
Ich hatte den kalten Wind und die eiskalten Hände schon bei einer Fahrradtour erlitten, und ich sah, dass die alte Dame mit bloßen Füßen in ihren Sandalen daher schritt. In denselben Sandalen wie seit Monaten, und das Thema passende Schuhe kaufen, und warum nicht, habe ich nicht versäumt. Auch nicht beim Deuten. Aber es half offenbar nichts. Ich sage dann gerne: "Meiner Mutter geschieht es recht, dass mir die Hände abfrieren, hätte sie mir die passenden Handschuhe angezogen." 
Da saß sie mit ihren nackten Füßen vor mir. Nun bin ich, gebürtige Norddeutsche, überhaupt nicht an besonderer Wärme interessiert. Schon gar nicht an Wetterberichten. Aber das war zu viel, und ich sagte, dass ich jetzt nach oben in meine Wohnung gehen werde, um ein Paar Socken zu holen. Die ersten waren zu eng, und ich ging noch einmal eine Etage höher. Die handgestrickten blauen, mit rotem Rand, passten. Sie fragte: "Haben Sie die gestrickt". Ich: "Ich stricke nie, das wissen Sie doch schon." O Gott, wo ist die Abstinenz geblieben? Ich half Frau A. auch noch beim Anziehen, und ich hörte die Sorge, dass die Sandalen mit Socken zu eng sind. Und so löste ich die Riemen, was sie bisher nicht gewagt hatte. Alles wurde weiter und bequemer. Ich hörte das Lob. 

Mehr geht jetzt hier nicht aus dieser beeindruckenden Sitzung. Ich denke sogar daran, einen Vortrag vorzubereiten. Als ich mich von Frau A. verabschiedete, sagte die Patientin, sie werde die Strümpfe das nächste Mal gewaschen mitbringen.
Ja, und Frau A. kam eine Woche später zur nächsten Sitzung, brachte einen Schokoladennikolaus mit, und ich traute meinen Augen nicht. Da saß die Patientin mit schwarzen Lederschuhen, besser gesagt "stabilen Laufschuhen", und ich sah wollene Socken an ihren Füßen. Meine Freude wollte ich nicht unterdrücken, aber ich fragte noch nicht nach meinen blauen Stricksocken mit den roten Streifen am Rand. 
Frau A. betonte, sie habe diese Schuhe schon lange, aber nicht mehr daran gedacht, und sie laufe jetzt viel sicherer, vor allem wärmer. Und sie erinnerte sich, wie sie vor Jahren zu mir gekommen war. Die Hausärztin habe sie in eine Klinik geschickt, von dort in ein Institut. Dann habe man sie  "zu  einer großen Dünnen geschickt", die habe sie vor der Türe draußen auf der Straße lange warten lassen, und es sei "bitterkalt gewesen". "Die war bei Ihnen in Behandlung und ist dann Therapeutin geworden, und sie sagte, dass sie nicht mit mir klar komme, und ich zu Ihnen gehen soll." 
"Nun, Sie dürfen natürlich heute auch ohne meine Socken zu mir in die Sitzung kommen, und wo sind sie denn jetzt, die Socken??" Sie seien nicht verloren gegangen, aber sie müsse die Socken noch waschen. 
Und ich konnte eine Deutung nicht unterdrücken: "Nun, das hat früher Ihre Mutter gemacht, die Wäsche für acht Kinder, und sie hatte auch sicher nicht die Zeit und die Kraft, sich um die passenden Strümpfe für die sieben Mädchen zu kümmern. Und als Sie geboren wurden, musste ihr ältester Bruder schon Soldat sein." 
Ja, sie habe sich oft alleine gefühlt, heute rufe sie jeden Tag ihre Schwester im Altenheim an und singe ihr ein Gute-Nacht-Lied. Sie werde an Weihnachten allein sein, das sei gut so, und dann von  Johann Sebastian Bach das Weihnachtsoratorium hören. Mehr brauche sie nicht. Der Bach sei ein fleißiger Mann gewesen und oft sehr traurig.  Frau A. erinnerte sich dann an die Flucht aus Berlin in der Winterkälte, die Mutter habe sie im Kinderwagen gefahren ... Mehr an dieser Stelle nicht, zu traurig ist diese Geschichte von der Flucht. 
Auch eine Woche später kommt Frau A. mit guten Schuhen und warmen Socken. Sie übergibt mir eine Plastiktüte, ich fasse hinein, die Socken sind noch feucht, ganz weich, und ich bedanke mich. 


*Hinweis der Redaktion: Die persönlichen Angaben zur Pat. in dieser Fallgeschichte sind teilweise verfremdet



Dr. med. Renate Kremer,
HIP Dozentenkreis
Psychoanalytikerin
Gruppenanalyse
Heidelberg

1 Kommentar:

  1. die "frühen" Patienten kommen gerne(?, wenn es nach ihnen geht) früher. Ich kenne es so, wie in jedem guten Nachtclub heisst es "doors open...", dann wenn die Zeit ist und nicht vorher.

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