Lesenswert!

All-you-can-read: Hier ist Raum für Empfehlungen zu Büchern oder Artikeln in Papier - oder elektronischer Form. Bitte, schreiben Sie uns kurz der lang, wenn Sie eine Publikation für Ihre eigene Ausbildung oder im Rahmen Ihrer anderen Funktionen im HIP, z.B. als Dozent oder Supervisor, hilfreich fanden: hip.gedankengut.blog@gmail.com

11.05.2020    Jeanette DEUTSCH: "Briefe für Paula - Leserinnen und Leser aus aller Welt                                                                                                zu Isabel Allendes Lebensroman"

25.08.2019   Kommentar zur Buchbesprechung: "Hanya
                         YANAGIHARA: Ein wenig Leben."

27.07.2019   Dörte HANSEN: "Altes Land" 

04.06.2019  Hanya YANAGIHARA: "Ein wenig Leben"

19.08.2017  Michael ERMANNs Trilogie
                      "Freud und die Psychoanalyse - Entdeckungen, Entwicklungen und Perspektiven";                                                                                    "Psychoanalyse in den Jahren nach Freud - Entwicklungen 1940-1975"; 
                       "Psychoanalyse heute - Entwicklungen nach 1975 und aktuelle Bilanz".

20.06.2017  Ingo JUNGCLAUSSEN "Handbuch Psychotherapie - Antrag"

20.12.2016  David GELERNTER "Gezeiten des Geistes" 


Pascal Mercier: Das Gewicht der Worte. Carl Hanser Verlag, München, 14. Aufl., 2020

Non ti perdere.“ wird in der Familie Simon Leylands gesagt, wenn es um Abschiede geht, Alltagsabschiede und andere. Verlier‘ dich nicht in den Gassen!, aber auch: Verlier dich nicht in dir selbst!

Von der Angst, sich selbst zu verlieren, handelt der Roman „Das Gewicht der Worte“ von Pascal Mercier. Und von dem, was Halt gibt. Zu Beginn steht der Traum des Protagonisten, alle Sprachen der ans Mittelmeer grenzenden Länder zu erlernen. Eine Metapher für die Leidenschaft der Wörter. Halt in der Sprache, in Worten. Es geht darum, die richtigen Worte zu finden, in der einen oder der anderen Sprache, für sich selbst und in den Begegnungen mit anderen, sprachliche Intimität.

Simon Leyland wird Übersetzer: Er lässt sich auf die innere Gestalt und den Klang der Sprache ein; kommt als Übersetzer den Autoren nah wie niemand sonst. Übersetzen als unerhörte Invasion einer fremden Innenwelt. Ohne Gefahr zu laufen, es besser zu wissen als der Autor. Das Bedürfnis, etwas wirklich zu erfassen, zu verstehen.

35 Jahre später erhält derselbe Protagonist eine Diagnose, die alles verändert: Glioblastoma multiforme; ein unaussprechbares Wort. Nur noch wenige Monate zu leben, zu sprechen, sich auszudrücken. Die Krankheit nimmt ihm die Worte und damit die Existenz. 77 Tage später stellt sich alles als ein Irrtum heraus: eine Verwechslung der CTs. Brute fact. Die Anfälle, die Simon Leyland alle paar Wochen erlebt und die ihn zu einem Gefangenen in sich selbst machen – eine Durchblutungsstörung, Migraine accompagnée, nur Migräne. Eingeschlossen mit den Worten in sich selbst, nach außen hin versiegelt, als habe er vergessen, wie das geht, Gedanken in geäußerte Worte zu fassen. Eine Lähmung der äußeren Worte, während im Inneren alles in Ordnung ist. Wäre da nicht die Angst, dieses Innere nie mehr mitteilen zu können. Der Irrtum verändert alles, nimmt ihm zuerst den Vorrat an Zukunft und lässt ihn schließlich anders in der Welt sein, anders in der Zeit und auch in den Worten.

Seit dem Tod seiner Frau Livia elf Jahre vor der Diagnose schreibt er ihr Briefe. Geschriebene Zwiegespräche, stille Spiegelung. Es ist seine eigene Stimme, mit der er sich hier seiner selbst vergewissert, sein Erleben erkundet: „Es macht einen großen Unterschied, ob ich etwas nur für mich selbst denke oder ob ich es für einen anderen darlege, sei es auch nur in Gedanken.“ Unteilbare Intimität. Gemeinsam hatten sie nach den richtigen Wörtern gesucht, Italienisch, Französisch, Englisch, Deutsch.

Jahrzehnte lang hatte Simon Leyland sich mit der Sprache anderer beschäftigt. Die verloren gegangene Zukunft, die sich jetzt wieder offen auftut, lässt in ihm die Frage entstehen, was mit seiner eigenen Sprache ist? Hat er sich durch Jahrzehnte des Übersetzens den Weg zu einer eigenen Sprache verbaut? Er beginnt seine Stimme suchend zu schreiben und sich dabei immer näher an sich selbst heranzuschreiben. Schreiben als Möglichkeit, den Bann der Zeitlichkeit zu brechen, als Gefühl von Freiheit.

Sechs Wochen, nachdem sich die Diagnose als Irrtum herausgestellt hat, zieht Simon Leyland in das Haus seines verstorbenen Onkels. Hier hängt auch die Karte des Mittelmeeres, vor vielen Jahren Ausgangspunkt des Sprachtraumes. Fortan spannt sich sein Leben auf zwischen Triest, Città delle Lettere, der Stadt, in der er zuvor gelebt und übersetzt hat und London, wo er nun beginnt, nach eigenen Worten zu suchen. Er begegnet Menschen, die auf ihre je eigene Weise nach Worten suchen, Worte verlieren und sie finden. In allen diesen Begegnungen spielt geteilte Sprache eine entscheidende Rolle. Das eigentliche Vermächtnis des Onkels, ein Brief, endet mit der Frage, wie er selbst klinge: „Stets hast Du anderen geholfen, in Deiner Sprache zu Wort zu kommen. […] Wie würdest du klingen, wenn Du von Deinen Erfahrungen sprächest, von Deinem Denken, Erinnern und Erleben?

Zu Wort zu kommen, einer quälenden Stummheit, sprachlosen Leere etwas entgegenzusetzen, die eigene Stimme zu entdecken und laut werden zu lassen, darum geht es auch in der Therapie. „Aber, so sprechen wir nur hier.“, sagt eine Patientin nach zwei Jahren Psychotherapie, als es um Schuldgefühle geht, die entstehen, wenn sie Bedürfnisse äußert und andere dadurch womöglich bedrängt. Sie könne ihre Schwester doch fragen, ob sie das wirklich so bedrängend erlebe? „Aber, so sprechen wir nur hier.“ Wo sich zu Beginn nur medizinische Worte für körperliches Leiden fanden, ist im Laufe der therapeutischen Arbeit ein gemeinsamer (Sprach)Raum entstanden. Mühevoll haben wir begonnen, die körperlichen Beschwerden zu übersetzen, vom „man“ zum „ich“, von Harmonie zu Ärger, in mutigen Stunden Wut. Es gibt Worte, die kennen nur sie und ich, Sprachrituale. „Wortgeheimnisse“, sagt Simon Leyland. Wenn es gut läuft, mit jedem Patienten andere. Der Therapeut als Übersetzer. Manchmal fehlt nur ein Wort. Dann beschreibt der Patient eine Szene, sucht und tastet sich vor, schließlich bleibt alles in der Luft hängen, die Stimme versiegt. Einen Moment ist es still. „Sie meinen, hier können Sie zu sich halten?“ Erleichterung. Da ist jemand, die versteht. Dieses Wort hatte gefehlt: zu sich halten können. Manchmal fehlen fast alle Worte. Dann ist ein Übersetzer nötig, der ganze Sätze für das innere Chaos oder die Leere findet. Der Analytiker als Sprachlehrer, nennt das Thomas Ogden*, der dem Patienten hilft, zu Wort zu kommen. Gegen die quälende Sprachlosigkeit. Manche Dinge lassen sich gar nicht übersetzen; trotzdem ist es möglich, sich mit diesem unübersetzbaren Rest verstanden und aufgehoben zu wissen, manchmal. Geteilte Gegenwart.

Die Therapeutin als Übersetzerin – das haben schon andere gedacht. Wie es sich anfühlt als Übersetzer, das lässt Pascal Mercier Simon Leyland erleben, der sich auf der Suche nach der treffendsten Übersetzung in die Worte einfühlt. Stets mit der Frage beschäftigt, um wessen Worte es sich handelt, wie viel Eigenes in diesen Worten enthalten ist. Wem „gehört“ die Übersetzung?

Was passiert mit einem, der jahrzehntelang übersetzt? Der versucht, in seinen Worten die innere Sprache eines anderen zu übersetzen, um etwas zu verstehen von diesem inneren Erleben? Ohne am Anfang auf eine gemeinsame Sprache, auf feststehende Bedeutungen zurückgreifen zu können? Erschüttert durch die irrtümlich gestellte Diagnose beginnt Simon Leyland, sich auf die Suche nach seiner eigenen Stimme zu machen. Wie aufwachen fühlt sich dieses Schreiben an. Im Schreiben bringt er sich selbst zur Sprache. „Mit einemmal wurde ihm klar, dass es […] um viel mehr ging als darum, eigene Worte zu finden. Die Aufgabe war noch viel größer, viel aufregender, auch beängstigender: sein eigenes Erleben zu finden.“ Nicht umsonst beginnen einige Psychotherapeuten spätestens im Ruhestand mit dem Schreiben. Sich um seine eigene Stimme kümmern nach vielen Jahren Übersetzungsarbeit. Das Schreiben, die Arbeit an der eigenen Phantasie und die Suche nach den eigenen Worten, der eigenen Stimme. Das war etwas, was eine eigene Zukunft in sich trug.

* Ogden, T.H. (2001 [1997]). Analytische Träumerei und Deutung. Zur Kunst der Psychoanalyse. Übers. H. Friessner und E. Wolfram. Wien, New York (Springer).

20.08.2021
Charlotte Schieber
HIP - Ausbildungsteilnehmerin Jhg. 2017

Hilde Domin: Postulat. Aus der Trilogie "Drei Arten Gedichte aufzuschreiben" (Gesammelte Gedichte S. 333)

Sie saßen auf einer Treppe vor der Heiliggeistkirche: zwei Männer, und ich sagte, sie hätten einen schönen Platz im Schatten. Das Gespräch kam bei heimlichen Immobilienbesitzern an, die nach außen arm und bedürftig aussehen. Einer der beiden Männern sagte scherzhaft, er sei vielleicht so ein Immobilienbesitzer, der das aber nicht zeige. 

Und ich erinnerte mich an einen Mann aus Kinderzeiten, als ich in der Heidelberger Altstadt wohnte, von dem früher gesagt wurde, dass er sehr reich sei und betteln gehe. Ich sehe ihn vor mir: in schwarz gekleidet, vornübergebeugt, suchend. Die Mülleimer waren häufig sein Ziel. 

Dann war die Rede von Hilde Domin. Man habe nach ihrem Tod 1 Million Euro auf ihrem Konto gefunden. Damit habe man nicht gerechnet. Und der Keller sei bis zur Decke mit Geschenken angefüllt gewesen: Wein und anderes, schön verpackt. Sie sei oft umgezogen. Ich erinnere ihre letzte Wohnung in einem schönen, alten Haus im Graimbergweg 5, wo ich oft mit meiner Hündin spazieren ging. 

Und ich erinnere jetzt die Erzählungen einer Freundin, die vor Jahren mit ihr als Begleiterin verreisen konnte. Sie war Sekretärin an einem analytischen Institut und freute sich über Ferientage in einem luxuriösen Hotel. Hilde habe oft das Zimmer gewechselt; manches habe ihr nach einer Weile nicht gefallen. 

Als ich wieder zu Hause war, fiel mein Blick auf ein Gedicht von Hilde Domin, das seit Jahren in meiner Küche hängt. Ich kaufte es auf einem Flohmarkt, auf der Rückseite ein Vermerk: "Persönliches Eigentum des Herrn Oberbürgermeisters". Das Gedicht ist auf eine besondere Weise dargestellt: Auf grünem Papier hinter Glas mit verzerrten Buchstaben. Ein Gedicht-Kunstwerk. 

Postulat

Ich will einen Streifen Papier
so groß wie ich
ein Meter sechzig
darauf ein Gedicht
das schreit
sowie einer vorübergeht
schreit in schwarzen Buchstaben
das etwas Unmögliches verlangt
Zivilcourage zum Beispiel
diesen Mut den kein Tier hat
Mit-Schmerz zum Beispiel
Solidarität statt Herde
Fremd-Worte
heimisch zu machen im Tun

Mensch
Tier das Zivilcourage hat
Mensch
Tier das den Mit-Schmerz kennt
Mensch Fremdwort-Tier Wort-Tier
Tier
das Gedichte schreibt
Gedicht
das Unmögliches verlangt
von jedem der vorbeigeht
dringend
unabweisbar als rufe es
"Trink Coca-Cola"

Dr.med. Renate Kremer
HIP Dozentenkreis
Psychoanalytikerin
Gruppenanalyse
Heidelberg



Jeanette Deutsch: Briefe für Paula - Leserinnen und Leser aus aller Welt zu Isabel Allendes Lebensroman.      Suhrkamp Verlag, Frankfurt, 1996


Schreiben gegen das Vergessen

Heute morgen war ich unschlüssig, wohin, ja, "wohin stand mir der Sinn?" Ohne bewusste Absicht habe ich ein Bücherregal im Schlafzimmer betrachtet und ein kleines, schmales weißes Bändchen herausgenommen, Begrenzung tut bekanntlich gut. Titel: "Briefe für Paula - Leserinnen und Leser aus aller Welt zu Isabel Allendes Lebensroman, mit einem Vorwort von Isabel Allende". Ich las "Schreiben gegen das Vergessen. Briefe für Paula".
Ja, noch eine Aufgabe war zu erledigen, eine selbst auferlegte: Zehn Bücher aussortieren für das Bücherregal in der Neugasse oder am Marktplatz in Neuenheim, und ich radelte los. 
Wohin? Ja, ich hatte einen Brief für eine Freundin in der Handschuhsheimer Landstraße im Rucksack.... Mein Blick fiel auf eine Parterrewohnung, die seit Jahren leer steht und deren Bewohner ich kannte, eher flüchtig... Ja, wo war er jetzt? Ich lief über den Markt vor der Tiefburg, es war Nachmittag und die Händler räumten die Stände ab, beluden die Wagen und ich hörte, dass schon morgens um halb fünf Uhr der Arbeitstag begonnen hat. Jetzt war es 13:00... und der Arbeitstag noch nicht zu Ende... Der grüne Spargel mit den hängenden Köpfen tat mir leid, aber ich hielt mich zurück... Noch nie habe ich mich der St. Vituskirche genähert... sie noch nie betreten... Aber heute... Wiederholt suche ich Orte auf, wo ich jetzt in der besonderen Lebenszeit noch nie gewesen bin.
Der alte Friedhof machte mich neugierig und ich setzte mich unter eine mächtige Linde. Und las: "Am 6. Dezember 1992 starb meine Tochter Paula auf so stille Weise, dass ich den genauen Zeitpunkt, da sie aus dem Schlaf ins andere Leben übertrat, nicht bemerkte. Ein Jahr zuvor war sie aufgrund eines akuten Anfalls von Porphyrie in ein Krankenhaus in Madrid eingeliefert worden. Sie lebte in dieser Stadt mit Ernesto, ihrem Mann, mit dem sie die Leidenschaft einer noch jungen Liebe verband. Wenige Stunden nach ihrer Einlieferung fiel Paula ins Koma, und von dem Augenblick an, als man sie in höchster Eile über die Korridore des Krankenhauses in die Intensivstation rollte, verlor ich meine Tochter für immer, nur wusste ich es da noch nicht."
Paula war noch nicht lange verheiratet, da erzählte ihr Mann Ernesto Isabel Allende einen Traum. Die Ärzte hatten nach einem Jahr alle Hoffnung aufgegeben, dass Paula aus ihrer anderen Welt noch einmal heraustreten könnte. In Ernestos Traum stieg Paula „eine lang ausziehbare Leiter hoch, und als sie oben ankam, warf sie sich in die Leere, ehe er sie festhalten konnte. Dann sah er sie auf einem Tisch liegen, sie verfiel immer mehr... ohne jedoch zu sterben. Da begriff Ernesto, dass er ihr nur helfen konnte, wenn er ihren Körper zerstörte, er nahm sie in die Arme und legte sie auf ein Feuer. Danach erschien ihr Geist, um von der Familie Abschied zu nehmen und ihm zu sagen, dass sie ihn liebte. Dann löste sie sich auf.“ Dieser Traum machte es uns leichter, Abschied zu nehmen... „Paulas Asche wurde ihrem Wunsch entsprechend in einen Bach in einem Wald inmitten uralter Mammutbäume verstreut…“
Ich weinte nicht nur um Paula, und ich betrat die Kirche, wo vor einem beleuchteten Altar in einiger Entfernung eine Frau kniete... Ich erinnerte mich an Trauriges und an Schönes… Dann galt es, mit dem Rad zurück in die Landfriedstraße zu fahren. Ich musste pünktlich sein, eine treue Hilfe, ich nenne sie „meine Putzfee“, hat sich um 14:00 angekündigt…


11.05.2020
Dr.med. Renate Kremer,
HIP Dozentenkreis
Psychoanalytikerin
Gruppenanalyse
Heidelberg



Kommentar zur Buchbesprechung "Hanya Yanagihara: Ein wenig Leben."

Die von Frau Werner geschriebene Rezension zu Ein wenig Leben beeindruckte mich tief.  Besonders gefiel mir das "Brandredenhafte", das den Text in den letzten Zeilen trägt. Ich denke, ich bin immer froh, wenn jemand eine Lanze bricht für Menschen mit strukturellen Störungen.

Ich kenne aus persönlicher Erfahrung den Umgang mit den oft als herausfordernd wahrgenommenen Patienten – mir fallen Begriffe wie "untherapierbar" oder auch "Spaltung" ein, die ich häufig nicht mehr hören kann. Die Bedürftigkeit der Patienten, ihre Impulsivität, die leicht mit Aggressivität verwechselt wird, vor allem, wenn man sie auf sich bezieht. Das ist die eine Seite.
Die andere Seite ist die eines Menschen mit einem für Normalneurotiker kaum nachvollziehbarem Leiden, in einer Intensität, die jederzeit den Selbstkern bedroht bis hin zur Auflösung oder, nach außen unmittelbarer, mit den verzweifelten Versuchen, diese Auflösung zu vermeiden: durch Selbstverletzung, Beziehungsabbrüche, Suizidversuche (um nur einige zu nennen).
Irgendwo zwischen diesen Gedankengängen verliere ich den Bezug zur Rezension des Buchs. Vielleicht fängt es damit an, dass ich nicht viele Menschen mit Borderlinestörungen kenne, die langfristig stabile Freundschaftsbeziehungen aufbauen können. Auch bin ich nicht sicher, ob viele TherapeutInnen auf die Idee einer Heilung im medizinischen Sinne kommen. Nein. Wir können nichts reparieren. Egal, wie lang wir sie betrachten, eine desaströse Kindheit bleibt eine desaströse Kindheit. Unsere Aufgabe ist meines Erachtens nach nicht eine ominöse Heilung, sondern der Versuch, die Fähigkeit zu vermitteln "trotzdem leben zu können" (wie es Herr Janus einmal in einer Supervision mir gegenüber erwähnte). Wie lässt sich mit all diesen monströsen Erfahrungen leben, vielleicht sogar ein an manchen Stellen glückliches Leben führen? Da ist unsere Aufgabe.
Bezüglich der Demut des Therapeuten (und spiegelbildlich dazu den narzisstischen Kränkungen der therapeutischen Hybris) bin ich wieder ganz bei Frau Werner. Bezüglich Herrn Milton bleibe ich skeptisch. Ja, ich denke, ich verstehe, was er sagen will, und ja, ich halte mich für jemanden, der nah an seinen Patienten dran ist und intersubjektiv denkt, aber das, was er dabei möglicherweise nahelegt, scheint mir auch etwas Blauäugiges zu haben. Therapeuten sind nicht Freunde und die von Frau Werner zitierte (und von mir auch immer wieder gern herangezogene) Beziehungserfahrung ist von nicht zu unterschätzender Wichtigkeit – jedoch keine Freundschaft.
Im (hinterfragbar) Schlechten heißt dies zum Beispiel, dass ich bezahlt werde für die Anwendung meines Wissens und meiner Fähigkeiten, dass ich nicht jederzeit erreichbar bin (oder zumindest schlechter, als ein guter Freund es wohl wäre) und dass die Beziehung zu mir ein definiertes Ende hat. Im Guten heißt es aber auch, dass ich versuche, möglichst neutral und ohne Intention der eigenen Bedürfnisbefriedigung (nebenbei: auch ein spannendes und hinterfragbares Thema) meine Fähigkeiten und mein Wissen für meinen Patienten zu nutzen, dass ich schon aus rechtlichen Gründen absolut verschwiegen sein muss und auch, dass ich den Patienten nicht sitzen lasse, wenn er sich Ausfälle mir gegenüber leistet, die die meisten Freunde auf Dauer vergraulen würden. Das soll keine Argumentation gegen die Freundschaft (oder auch die Liebe) sein. Nur manchmal reichen sie eben nicht. Therapien allerdings manchmal auch nicht. Und diese zwei Dinge sind etwas Grundverschiedenes. Therapien sollten nicht rein supportiv sein oder speisen sich nur aus unspezifischen Wirkfaktoren (oder wenn doch, dann sind sie nicht nachhaltig). Wir folgen Theorien, auch wenn diese fragil sind und an die Situation und den Patienten angepasst oder gar verworfen werden müssen. Etwas lakonisch könnte ich noch sagen: Was wär´ ich für ein abstoßender Freund, der sich für seine Freundschaft bezahlen lässt?

Abschließend möchte ich noch eine Aussage von Frau Werner unterstreichen, in der ich ihr zutiefst zustimme: Es ist bereichernd. Für alle Beteiligten.


25.08.2019
Jan-Erik Grebe,
HIP - externer Dozentenkreis,
ehem. Jhg. 2010



Dörte Hansen: Altes Land. 
Penguin Verlag, München, 12. Aufl., 2015


Im Alten Land werden Obstbäume gegen den Nachtfrost mit einer dünnen Schicht Wasser geschützt, die nachts gefriert. „Frostschutz durch Vereisung“ nennt Annes Tante Vera das. 
Hildegard, Vera, Anne: Drei Generationen von Frauen auf der Flucht. Nie ankommend - am wenigsten in sich selbst. Den Fluchtimpuls weitergebend an die nachfolgende Generation. Ein Bauernhaus im Alten Land westlich von Hamburg wird diesen Frauen Zufluchtsort. Doch die Sehnsucht nach einem Zuhause bleibt - genauso wie die Sehnsucht nach einem Mitmenschen, der die Worte wiederfindet, die auf der Flucht verloren gegangen sind. Sehnsucht auch nach einer Umarmung gegen die ständige Kälte, damit nicht die einzige Wärme von einem Vierjährigen kommen muss zwischen all den Frauen aus Treibeis. Alles, was diese Frauen tun, tun sie einander an. „Töchter in ihren Rüstungen aus Zorn“ geben die Kälte ihrer Mütter an ihre Kinder weiter und bei den Nachbarn heißt es: „Kiek man nich hen.“
Reduziert, dabei aber direkt und unmittelbar erzählt die Autorin Dörte Hansen, selbst promovierte Linguistin, in dem Roman Altes Land (2015), was passiert, wenn für Unaussprechliches keine Worte gefunden werden. Wenn die Erfahrung von Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen über drei Generationen weiterwirkt bis ins Hipster-Bioleben nach Hamburg-Ottensen und Anne keine Worte findet für ihre „zivilisierte wohltemperierte Beziehung“, die sie jetzt sachlich abwickeln muss. Unterdessen sitzt ihre Tante Vera in dem uralten Haus zwischen Obstbäumen im Alten Land und weiß nichts über ihre Mutter Hildegard, ihre Schwester Marlene oder ihre Nichte Anne. „Was wussten Töchter denn von ihren Müttern, sie wussten nichts.“ Aber sie erkennen sich: „Vera Eckhoff wusste nicht viel von ihrer Nichte, aber sie erkannte einen Flüchtling, wenn sie einen sah.“ Und keine der Frauen kann schlafen, denn nachts holt sie das ein, was sie tagsüber nicht in Worte fassen können, vor dem sie auf der Flucht sind.
Mich hat das Buch sehr nachdenklich gemacht. Hildegard, Vera, Marlene und Anne geben transgenerationalen Übertragungsphänomenen ein Gesicht, Begriffen wie „Zeittunnel“ (Kestenberg, 19951) und „Wiederholungszwang“ (Freud, 19142) und Erscheinungen wie der generationsübergreifenden Weitergabe von Bindungsmustern. Sie tragen an einer „Gefühlserbschaft“ (Freud, 19133), die sie nicht in Worte fassen können und die sich wie ein geerbter Eismantel um sie legt.
Die Generation der Hildegards ist nahezu ausgestorben und hat sich auch sonst nicht gern in psychotherapeutische Praxen verirrt. Aber die Annes, die kommen. Und manchmal lohnt sich die Frage danach, wie das eigentlich war mit dem Reden damals zuhause. Und welche Nachtgespinste da kommen, wenn der Tag zu Ende geht. In der Ambulanz kam einmal eine Frau der Generation Vera und Marlene zu mir. Im Krieg geboren, in die Psychosomatik geschickt von ihrem Kardiologen. Es gehe so nicht weiter, sagte der. Sie schwieg, offenbar nicht bereit, zu reden. Bis ich fragte, was denn sei mit ihren Kindern. „Drei“, sagte sie, „aber nur noch eins, das lebt. Trotzdem sage ich drei.“ Und dann erzählte sie. Wir weinten beide. Die Patientin kam noch einmal wieder und bemerkte, dass es ihr gutgetan habe, Worte zu finden. Ob sie weiterreden wolle, müsse sie sich noch überlegen. 
Angesichts von Unaussprechlichem nicht flüchten in eine Flut aus Worten oder Erklärungen. Um Worte ringen mit Verstummten, mit Wütenden, deren Zorn manchmal auch geerbt ist. Schweigen nicht als wegschauendes eisiges Schweigen, sondern als gemeinsames Schweigen. Durch Sprache Kontakt nicht vermeiden, sondern im Wort in Kontakt sein. Mitfühlen durch den Frostschutz hindurch. Das sehe ich immer noch als unser Kerngeschäft.

Kestenberg, Judith (1995). Die Analyse des Kindes eines Überlebenden: Eine metapsychologische Beurteilung. In: Bergmann, Martin S., Jucovy, Milton E. & Kestenberg, Judith S. (Hrsg.): Kinder der Opfer – Kinder der Täter. Frankfurt am Main (Fischer), S. 173–206.
Freud, Sigmund (1914). Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten. In: Gesammelte Werke, Bd. X, Frankfurt a.M. (Fischer 1991).
Freud, Sigmund (1913). Totem und Tabu. Gesammelte Werke, Bd. IX, Frankfurt a.M. (Fischer 1989).


27.07.2019
Charlotte Schieber
HIP - Ausbildungsteilnehmerin Jhg. 2017


Hanya Yanagihara: Ein wenig Leben.
Hanser Verlag, Berlin, 9. Aufl. 2017 
(Originaltitel: A little life)


Der Roman Ein wenig Leben der US-Amerikanerin Hanya Yanagihara erschien 2015 auf englisch,  im Jahr 2017 dann in deutscher Übersetzung. Kritikerinnen überschlugen sich vor Begeisterung und auch die Leser waren gebannt von der Wucht und Intensität des 960 Seiten langen Romans. Im Zentrum der Erzählung stehen die vier Freunde Malcom, JB, Willem und Jude, die sich im College kennengelernt haben und denen wir über drei Jahrzehnte ihres Lebens in New York folgen. 
Was, werdet ihr euch fragen, hat dieser Roman mit Psychotherapie zu tun? Viel, meine ich und ich denke, wir können eine Menge aus diesem Buch lernen. Das mag zum einen an der genauen Schilderung seiner Charaktere liegen, die man sich als Leser sehr gut vorstellen kann. Die Geschichte von Judes jahrelangem sexuellen Missbrauch und körperlichen Misshandlungen rückt hierbei mehr und mehr ins Zentrum des Romans. Dabei changiert der Roman zwischen Rückblenden auf Judes Kindheit und Jugend und der Gegenwart, in der er sich immer wieder selbst verletzt. Das ist unglaublich schmerzhaft zu lesen. Es ist aber die nachdrücklichste Schilderung einer komplexen Traumafolgestörung, einer Borderline-Struktur, die ich je gelesen habe. Als Leserin wird man mehr und mehr in den Bann gezogen, versteht Judes Angst, verlassen zu werden, seine tiefe Verzweiflung und die seiner Freunde, welche seinen Selbstverletzungen oft hilflos gegenüberstehen. 
Und so ist das Buch zuweilen kaum aushaltbar. Trost und Glück findet sich nur in den unverbrüchlichen Freundschaften zwischen den vier Hauptprotagonisten, zwischen Jude und seinen Adoptiveltern, zwischen Jude und Andy, seinem Arzt und Freund, den er immer wieder aufsucht. 
Die Psychotherapie ist bei alldem keine Rettung. An einer Stelle im Buch heißt es sogar, Psychotherapie könne nicht helfen. Zu sehr gehe sie davon aus, Dinge „reparieren“ zu können. Und genau das ist es, was dieses Buch so schmerzlich macht. Judes Trauma lässt sich nicht reparieren. Es lässt sich lindern, durch die Liebe und die Unterstützung seiner Freunde. Trotz des Traumas gibt es glückliche Momente, glückliche Tage und Wochen, gibt es Solidarität und Bindung und Halt.
Und hier liegt die Chance, etwas sehr wichtiges zu verstehen, nämlich dass in vielen Fällen, wenn wir versuchen, Patientinnen zu helfen, unsere Ziele zu hochgesteckt sein mögen. Dass die Gefahr besteht, dass wir zu viel von Patienten erwarten, möglicherweise zu klare „Foki“ haben. Das mag ein Abwehrmechanismus sein, um die Ohnmacht, die uns befällt, wenn wir das Ausmaß des Dramas begreifen, nicht spüren zu müssen. Es mag aber auch dem neoliberalen Zeitgeist geschuldet sein, der uns dazu drängt, Psychotherapie möglichst wirtschaftlich durchzuführen und der dazu führt, dass, insbesondere im Bereich der Verhaltenstherapie, manualisierte Therapien immer mehr zunehmen.
Dieser Ansicht ist auch der Londoner Psychologie-Professor Martin Milton, der über das Buch schreibt
„...we often fit the client to what we offer, rather than adapting our services to what each client may need. [… ]Instead of being able to offer the attuned engagement and knowing we so desperately want to, we can be straitjacketed, offering template interventions and explanations. […] Yanagihara reminds us that our responses to the traumatised have to go beyond a reliance on scripts and manuals.1
Je mehr ich anerkenne, wie groß das Leid meines Patienten ist und je mehr ich mich auf seine Welt einlasse, desto hilfreicher kann die therapeutische Bindung für den Patienten sein.
Und auch wenn Psychotherapie in Ein wenig Leben nicht besonders gut wegkommt, so können wir doch viel daraus für unsere Arbeit lernen. Wir können erfahren, was zahlreiche Therapiestudien wieder und wieder bestätigt haben: Die immense Bedeutung von als hilfreich erlebten Beziehungen für psychisches Leiden. Die hoffnungsvollen Momente in Ein wenig Leben sind eben jene, in denen Jude Rückhalt und Hilfe bei seinen Freunden findet. 
„Yanagihara’s novel can also drive you mad, consume you, and take over your life“, heißt es in einer Rezension des Magazins NEW YORKER². Ist dies eine Warnung? Vielleicht. Tatsächlich hat mich kein Roman bisher so sehr erschöpft und mitgenommen wie Ein wenig Leben. Und gleichzeitig fühlte ich mich bereichert und beglückt angesichts dieser Erfahrung. Und auch hier sehe ich eine Parallele zu psychotherapeutischen Behandlungen. Können nicht auch diese uns gleichzeitig erschöpfen und bereichern? Müssen wir nicht auch hier bereit sein, die Erfahrungswelt unserer Patienten an uns heranzulassen? Ist es nicht Teil unseres Berufes, uns erschüttern zu lassen, während wir gleichzeitig den Therapieprozess reflektieren und lenken? Der Berliner Psychoanalytiker Chris Jaenicke schreibt, als Therapeuten müssten wir bereit sein, „die Tiefe unserer Beteiligung anzunehmen. Um zu verändern, müssen wir uns selbst verändern lassen.“3 Eben dies sehe ich als Herausforderung und Chance unseres Berufs.

https://thepsychologist.bps.org.uk/volume-32/january-2019/little-life-profound-story
2 https://www.newyorker.com/books/page-turner/the-subversive-brilliance-of-a-little-life
3 Jaenicke, Chris (2010). Veränderung in der Psychoanalyse. Stuttgart: Klett Cotta.


04.06.2019
Amelie Werner
HIP - Ausbildungsteilnehmerin Jhg. 2015




Michael Ermann: Freud und die Psychoanalyse – Entdeckungen, Entwicklungen, Perspektiven. Kohlhammer, Stuttgart, 2. Aufl., 2015.  
Michael Ermann: Psychoanalyse in den Jahren nach Freud  - Entwicklungen 1940-1975. Kohlhammer, Stuttgart, 2. Aufl., 2012.  
Michael Ermann: Psychoanalyse heute – Entwicklungen seit 1975 und aktuelle Bilanz. Kohlhammer, Stuttgart, 2. Aufl., 2012.  



Aus den Lindauer Beiträgen
zur Psychotherapie und Psychosomatik:
Die Trilogie eines Didakto-Genies


Wir Ausbildungskandidaten sind wegen chronischer Zeitnot immer dankbar, wenn wir Literatur zu lesen bekommen, die kurz und knapp, aber informativ und anschaulich wichtige Ausbildungsinhalte vermittelt. So nach dem Motto, bitte das bestmögliche Zeit-Info-Verhältnis! Über eine solche Buchbandreihe bin ich schon vor einiger Zeit gestolpert, aber aus eben erwähnter Zeitnot heraus komme ich erst jetzt dazu, diese Entdeckung mit euch zu teilen. 
Es handelt sich dabei um drei Buchbände von Michael Ermann, die aus seinen Lindauer Vorträgen hervorgegangen sind. Und bitte nicht erschrecken! Ja, es sind gleich drei ganze Bücher auf einmal -  aber sie umfassen jeweils etwa 120 gut lesbare und nicht sehr dicht bedruckte Seiten. Ein Büchlein an einem Abend ist schon drin, wenn man noch einigermaßen wach und konzentriert bei der Sache ist und auf sein abendliches Glas Rotwein verzichtet. Maximal zwei Abende. Das bedeutet, an drei bis sechs Abenden habt ihr die Entwicklungen der Psychoanalyse seit Freud bis heute durch – na, wenn das nicht ein extrem effizientes Lesen ist!
Ich gebe zu, jeder mit einigermaßen funktionierendem Menschenverstand wird sich denken können, dass hier nur ein sehr grober Überblick gegeben werden kann. Aber es fühlt sich nach so viel mehr an! Und das ist meiner Meinung nach das Geheimnis dieser drei Bücher. Ermann hat, soweit ich das als Psychoanalyse-Anfängerin mit Affinität zu psychoanalytischer Literatur beurteilen kann, ein großes Talent, die Essenz des jeweiligen Ansatzes herauszuarbeiten und auch verständlich zu vermitteln. Kein Elfenbeinturm, keine  unnötigen Intellektualisierungen, keine unübersichtlichen Schachtelsätze. Dadurch gelingt es ihm, auf relativ gesehen sehr wenigen Seiten, die Ausdifferenzierungen der verschiedenen sich entwickelnden psychoanalytischen Theorien stark verdichtet wiederzugeben, und dazu noch deren federführende Vertreter (inklusive Kurzporträts UND Fotos!) vorzustellen. 
Inhaltlich führt Ermann seine Leser ausgehend von Freud über die vier großen Schulen der Psychoanalyse (Trieb-/Ich-/Selbst-/Objektbeziehungstheorien) bis hin zum aktuellen relationalen, intersubjektiven Denken; mit diversen Exkursen z.B. in die Lacan´sche Psychoanalyse oder Neopsychoanalyse. Und stets bleiben die sonst abstrakten Theoriegebäude gebunden an Menschen, ihre jeweiligen Vertreter – neben den „üblichen Verdächtigen“ wie Sigmund und Anna Freud, Klein, Bion, Winnicott, Kohut oder Kernberg noch viele andere, deren Namen man in der Ausbildung nicht so oft hört. Damit könnte man Ermanns Vorgehen selbst als teilweise intersubjektiv betrachten: Er kontextualisiert die Theorien, stellt die Menschen dahinter vor, macht das Ganze dadurch spannend, lebendig, viel spür- aber auch streitbarer. Genau das finde ich für uns Ausbildungskandidaten total wichtig, damit wir uns kritisch mit den jeweiligen Theorien auseinandersetzen können, uns das auch (zu-)trauen - weil wir sie hier nicht wie in Zement gegossen als unbestreitbare Facts in Ehrfurcht einflößenden dicken Lehrbüchern präsentiert bekommen, sondern als Hypothesen menschlichen Ursprungs zu fassen kriegen. 
Ok, um die Idealisierung jetzt etwas zurückzunehmen: Den ersten Band über Freud fand ich im Vergleich zu den anderen beiden doch irgendwie sperrig. Ob das vielleicht auch etwas mit dem Menschen dahinter zu tun haben könnte? Dem einen (Freud) oder dem anderen (Ermann)? Dazu kann sich ja jeder im Sinne der Intersubjektivitätstheorie jetzt seine eigenen Gedanken machen…

19.08.2017
©MBar



Ingo Jungclaussen: Handbuch Psychotherapie-Antrag: Psychodynamisches Verstehen und effizientes Berichtschreiben in der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie 
Schattauer, Stuttgart, 1. Aufl. 2013, 3. unveränd. Nachdruck 2015


Ingo Jungclaussen ist als Psychotherapeut und Coach in eigener Praxis in Köln, als Antragssupervisor und als Dozent im Rahmen seines Fortbildungsangebots „pro-bericht“ tätig, bei dem er bundesweit Seminare zum Antragsbericht hält und dabei 
insbesondere auf die Psychodynamik fokussiert.
Sein Fachbuch „Handbuch Psychotherapie-Antrag“ erschien 2013 im Schattauer Verlag und behandelt so ziemlich alle Themen rund um den unliebsamen und zumindest aus Anfängern häufig eher beschwerlich hervortröpfelnden Bericht an den Gutachter: Wofür ist das Gutachterverfahren eigentlich gut? Wann ist unsere tiefenpsychologische Psychotherapie genau indiziert? Wie können wir diese im Bericht gut von der analytischen Therapie abgrenzen? Und was ist eigentlich so ganz genau mit Psychodynamik gemeint (sowohl bei eher konflikthaften als auch bei strukturellen Störungen)? Dabei liefert der Autor auch noch einmal komprimiert einen Überblick zu den „Big Four“ der psychoanalytischen Theorieschulen. 
All diese Kapitel kann man gut lesen, muss man aber nicht. Was man aber unbedingt sollte, ist sich die – in meinen Augen geniale – „psychogenetische Konflikttabelle“ zu Gemüte führen.
Diese beschreibt deutlich differenzierter und feingliedriger als andere mir bekannte Übersichten 15 voneinander abgrenzbare Konflikte, deren potentielle Genese, die assoziierten unbewussten Beziehungsfantasien, mögliche Konfliktauslöser, häufig vorkommende Abwehrmechanismen, potentielle Behandlungsfoki und einiges mehr. Dabei nimmt sie auch Bezug auf die Konfliktklassifizierungen von OPD-2 (2006) und Rudolf (2008). Die Unterscheidung in frühe und reifere Konflikte ermöglicht gleichzeitig auch die Berücksichtigung von strukturellen Anteilen.
Das Wichtigste: Die Tabelle hilft ungemein dabei, die komplexen, häufig noch impliziten und zum Teil auch verwirrenden klinischen Eindrücke der ersten Stunden in Worte zu fassen, zu ordnen und in einen Sinnzusammenhang zu bringen. Sie enthält an der ein oder anderen Stelle auch kleine Wortschätze wie „Vitalitätsschuld“, die die Grundthematik einer meiner Patientinnen mit dem Nagel auf den Kopf traf, was ich als unglaublich befriedigendes Gefühl empfand!
Jungclaussen glättet, strukturiert, integriert und vereinfacht die psychodynamische Theorienlandschaft und trägt damit, zumindest bei mir, zu einem vertieften Verständnis von Theorie bei, ohne durch gestelzte Begrifflichkeiten und sich profilierende Eigenkreationen von den Hauptaussagen abzulenken – sehr sympathisch. Die Konflikttabelle mag dazu führen, dass sich Antragsberichte ähneln, es erleichtert das Schreiben der Psychodynamik aber ungemein, sodass ich das Buch schon mehrfach Kollegen empfohlen habe und dies hiermit ganz offiziell noch einmal tue.
Und verrückt, aber die Antragsschreibung hat mit diesem Buch sogar Spaß gemacht! 

20.06.2017
Christina Löw
HIP – Ausbildungsteilnehmerin Jhg 2015



David Gelernter:  Gezeiten des Geistes
Ullstein, Berlin, 2016 (amerikan. Originalausgabe: The tides of mind, 2016)
gebunden, 22 Euro, auch als Kindle-Version erhältlich

David Gelernter, Enkel jüdischer Immigranten, ist Informatikprofessor an der Yale Universität und widmete dieses Sachbuch seinem 2015 gestorbenen Vater, der als Kernphysiker arbeitete und zu den Pionieren der Entwicklung der künstlichen Intelligenz (KI) zählt. Auch der Autor verschrieb sich und seine Forschungsbemühungen zunächst ganz der KI. In seinem Buch schildert er, wie er – entgegen seiner ursprünglichen Intention – immer mehr zur Relativierung der Machbarkeit von Bewusstsein und des universellen Anspruches der Neurobiologie gelangte. Sein gedanklicher Bogen spannt sich von Rilke, Kafka, Freud bis zu den Philosophen, insbesondere zur Phänomenologie Husserls. Er akzentuiert Freuds Werk als „maßgebliches und entscheidendes Denken der modernen Zeit“ an vielen Stellen des Buches. Unterstützt durch derzeit beobachtbare Tendenzen, der klinischen Psychoanalyse wieder mehr Bedeutung beizumessen, wagt er eine Kampfansage an die „uninformierte Freud-Ablehnung der akademischen Welt“, ohne in eine undifferenzierte old-man-Idealisierung zu verfallen.
Nicht ohne Humor geschrieben, lädt das Buch Psychologen, Philosophen, Literaten wie auch Informatiker ein, über den Tellerrand zu schauen. Gelernters Kolumnen sind in vielen Zeitungen und Magazinen erschienen. Mein Lieblingszitat aus dem Buch des Wissenschaftlers, der seinen eigenen, zeitgeistgeprägten Voreinstellungen Konträres und Ergänzendes hinzuzufügen vermochte: „Das Karussell der Zeit bringt die Revanche“. Von der New York Times als „Rockstar der Computerwissenschaften“ gefeiert, eignet sich das Buch für junge und alte Leute, die gerne nachdenken und sich interdisziplinär bereichern lassen. Zu Weihnachten werde ich´s zweimal verschenken – aber es wird auch 2017 noch hochaktuell sein…!

20.12.2016
Doris Normann
HIP – externer Dozentenkreis

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