Freitag, 11. Dezember 2020

Container

Jetzt muss ich mal etwas über FREUD & Co. loswerden, obwohl ich das eigentlich gar nicht wollte, da seit Generationen ständig alle Dozenten etwas über FREUD & Co. loswerden müssen. Freuds in Wien verfasste Schriften waren schon rein sprachlich ein solcher Genuss, dass sie den Goethe-Preis verdienten. Da er Jude war, wurde er während der ersten Blütephase der neuen Psychologie allerdings vertrieben. So mussten er und viele andere seiner Kollegen ihre Koffer packen und zogen in letzter Minute nolens volens nach London, New York, Buenos Aires oder sonst wohin um – doppelt verfolgt, weil die Nazis sowohl die Juden als auch die Psychoanalyse als gefährlich einstuften. In der Fremde schrieben FREUD & Co. gemäß des ihnen innewohnenden wissenschaftlichen Entwicklungstriebes emsig weiter, aber verlegen konnten sie die Texte erst einmal nur in englischer Sprache. Damit begann ein gewisses didaktisches Unheil. Nach dem Krieg hat man das Ganze - deutsch gedacht, englisch aufgeschrieben - dann wieder ins Deutsche rückübersetzt. Man hätte den Meister lieber selber fragen sollen, aber der war mittlerweile alt und krank und außerdem galt es eine Weile lang als chic, Psychoanalysetexte nicht im deutschen Original zu lesen (deutsche Sprache = Hitlersprache). Nur die Franzosen wieder mal, die Grande Nation, haben selbstbewusst eigens ein Buch kreiert mit dem Titel Traduire Freud, in dem sie über 5000 Begriffe in ihrer geliebten Muttersprache festklopften.

Jedenfalls ist es nicht nur bei Freuds Texten, sondern auch bei jenen seiner nachfolgenden Kollegen, die englische Muttersprachler waren, zu manchem Übersetzungsirrtum mit enormer psychohygienischer Tragweite gekommen; ein besonders dramatischer ist der mit dem Container. Das Containerwort hat man später gleich in der deutschen Übersetzung so stehen lassen, als modischen Anglizismus. Leider lässt es in unserer Umgangssprache eher Müllsammlung assoziieren. Sein Urheber, der Objektbeziehungspsychologe Bion, musste während des ersten Weltkrieges wehrhaft unter Kanonenhagel mit einigen anderen Soldaten in einem Panzer herumfahren, insofern scheint seine bildhafte Wortwahl naheliegend. Seither quälen sich allerdings die werdenden Therapeuten mit einem moralinsauer erhobenen Container-Zeigefinger herum, welcher ihnen zu bedeuten scheint, dass sie alles, was in der Sitzung mit dem von Erinnerungen und Affekten geplagten Patienten zur Sprache oder anderswie zum Ausdruck kommt, in sich hineinlaufen lassen sollen, so wie ein guter Container eben. Der gute Therapeut nimmt alles in sich auf. Und dann, wohin damit? Die materiellen Container, z.B. für Flaschen, werden ja regelmäßig geleert. Danach beginnt die systematische Wiederverwertung und Aufbereitung. Wenn wir diese Metapher kurz weiterspinnen und uns der hochinteressanten, bücherfüllenden Frage der weiteren psychologischen Verstoffwechselung an diesem Punkte entziehen („In reifer Form verarbeiten!“ – „Anverdauen!“ – „Selektiv-authentisch offenbaren!“), ist es doch wohl erlaubt, auch einmal den ästhetischen Gesichtspunkt zu betrachten.

Wenn du in einen Laden gehst, findest du zahlreiche Mülleimer, in verschiedenen Farben, oft mit Edelstahl kombiniert, Hochglanz oder matt, es gibt außerordentlich elegante und auch hochpreisige Modelle, die Deckel sind meistens diskret mit dem Fuß bedienbar, andernfalls mit einem lautlosen sogenannten Swingdeckel, der dich allerdings vor die Aufgabe stellt, bei unhandlicheren Abfällen dann doch kurz in Handberührung mit dem ganzen Elend zu geraten. Manche recht voluminös daherkommenden Teile haben sogar die Option einer integrierten Mülltrennung (Kategorien: schlimm, da zu destruktiv/normal/wiederverwertbar). Aber jeder weiß, wie so ein Teil nach mehrmonatigem (von den Spuren eines jahrzehntelangen Berufslebens einmal ganz zu schweigen) Gebrauch aussieht: befleckt, verbappt, mit Resten von nicht gezielt genug geworfenem Entsorgungsmaterial versehen, tangential gestreift von unappetitlichen und unerklärlichen Überbleibseln des Lebens. Der Glanz ist weg, die Grundfarbe auch, die Metallteile oxydieren mit der Zeit und sehen aus wie Omas alter Silberschmuck, den du nach Jahren zu feuchter Kellerlagerung findest und von dem du dich fragst: ehrlich oder höflich handeln?

Das dem Containerbegriff zugrundeliegende Verb to contain heißt nicht nur aufnehmen oder - in seiner intransitiven Bedeutung noch dramatischer bezüglich der zu Ende gedachten Folgen für die Identität eines Therapeuten - beinhalten; werfen wir einen Blick ins englische Wörterbuch*, dann bedeutet es auch halten, umfassen, eingrenzen, in Schach halten (zum Beispiel einen Feind), auffangen, eindämmen oder auch im Zaume halten. Vom oben ausführlich abgehandelten Abfalleimer war nie die Rede. Aber wie soll sich davon ein langjährig studierter und danach nochmals langjährig ausgebildeter Mensch überzeugen, der nun endlich "helfen" möchte? Diesen Menschen nennt man dann in belesenen objektbeziehungspsychologischen Kreisen ein „gutes Objekt“. Sein Gesicht ist oft tief zerfurcht, dafür naturbelassen, man soll ja zuhören, nicht sich zurechtmachen, Kleidung und Schuhe sind oft auffällig praktisch und robust, als beabsichtige man, in Zeitnähe bei rauen Windverhältnissen eine Wanderung zu beginnen (vielleicht ja eine unbewusste Präventionsstrategie zum Vermeiden hoher Reinigungskosten, falls das Material aus ihm oder dem Patienten aufgrund eines Überdruckes doch noch einmal unkontrolliert herauswuppt?). Wenn ich so ganz tief in mich hineinhöre, achtsam mit mir selbst bin und fest in meine Mitte hinspüre, dann meine ich zu merken, ich brauche bei dieser Thematik dringend frische Luft! Und für die unverdrossene Verteidigung feinen Schuhwerks habe ich ohnehin eine Schwäche, schon vor Ergreifen dieses Berufes.

* www.dict.leo.org

Doris Normann
HIP – externer Dozentenkreis

Samstag, 19. September 2020

Dichten im Dienst der Zivilcourage

 

Liebe Leserin, lieber Leser, im Blog gibt es einen neuen Beitrag, diesmal eine Betrachtung eines Gedichtes von Hilde Domin, die jahrzehntelang in Heidelberg lebte. Es handelt von Zivilcourage und der Fähigkeit zur Empathie, geschrieben von Dr. Renate Kremer, Heidelberg.

Hier ist der link zu unserer Seite "Lesenswert!"

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Donnerstag, 13. August 2020

Einen Vogel haben

Es ist ein frühlingshafter Montagabend. Das Wochenende am Chiemsee sei ein Reinfall gewesen. Mit Erwartungen beladen sei sie hingefahren zu ihren Eltern. Trotz oder wegen Corona. Zum ersten Mal seit einigen Monaten. Enttäuschungen vorprogrammiert. Abends nur Fernsehen. Die Schwester habe gefehlt, es sei ihr zunächst nicht aufgefallen. Durch das geöffnete Fenster seien den ganzen Tag über immer wieder Insekten und Spinnen ins Haus gekommen. Man habe schließlich damit leben müssen, trotz Angst vor den Eindringlingen. Der Vater sei es leid geworden, die Töchter permanent vor dem Ungewissen zu retten. Also habe sich die Schwester traurig in ihr Zimmer verzogen.

Erwartungsvoller Blick. Ich hänge am „traurig“, als mich ein dumpfer Schlag aus meinen Gedanken reißt. Neben mir ein Vogel. Corona-Abstand, etwa 1,5 Meter. Für einen geschlossenen Raum und einen Vogel trotzdem zu nah. Das gekippte Fenster – Aerosolaustausch! – hat den Vogel nicht hindern können, an unserer Sitzung teilzunehmen. Als hätte er uns belauscht und sich gedacht: „Ich zeige euch, was es heißt, wenn das Unbewusste durchs Fenster kommt.“ Es ging ihr nicht gut, der Kohlmeise. Der phobischen Patientin auch nicht. Therapeutische Ich-Spaltung hindert mich an der Flucht. Die Patientin hält sich die Ohren zu – irrwitzig angesichts des müden Fiepens der kleinen Meise. 

Geordneter Rückzug. Therapeutin und Patientin verlassen den Raum. Behutsam findet die Kohlmeise einen Platz auf dem äußeren Fenstersims, gebettet auf einem dünnen HIP-Taschentuch. Die Sitzung geht weiter, jetzt ohne Aerosolaustausch. Auf dem Fensterbrett stirbt vielleicht eine Kohlmeise. Es fühlt sich nicht leicht an.

Aber das Erlebte lässt sich besprechen. Es habe ihr geholfen, dass wir in Kontakt geblieben seien. Sie habe zum ersten Mal bemerkt, dass sie sich angesichts von Angst die Ohren zuhalte. Frühere Erinnerungen kommen hoch.

„Wir sehen uns nächste Woche zur gewohnten Zeit. Hoffentlich zu zweit, ohne Vogel.“ Die Patientin lacht, wird nachdenklich: „Hoffentlich kommt er durch.“ Sie könne gern nach dem Vogel schauen. In dem Moment, in dem die Patientin sich ans hohe Fenster stellt, um den Vogel zu begutachten, löst er sich aus dem Taschentuch und fliegt davon.


Charlotte Schieber
HIP Ausbildungsteilnehmerin Jhg 2017



Samstag, 6. Juni 2020

Martha erfindet eine neue Tresorübung







Der erste Corona-Fall in der Praxis war aufregend und unerwartet. Darüber hinaus bescherte er mir nicht nur erste Erfahrungen in telefonischer Psychotherapie, sondern erweiterte meinen mageren büchergeschulten Blick auf die Kriegsgeneration, der sich meistens auf deren Traumatisierungen und Retraumatisierungsgefährdungen bezieht. Zu oft, wie mich eine Patientin nun gelehrt hat.
Martha* war 79 Jahre alt, als Covid-19 sie erwischte,

Donnerstag, 28. Mai 2020

Zum Glück habe ich noch meine Notizen aus dem Psychologie-Studium







In letzter Zeit frage ich mich, auch durch meine Arbeit in einer Entwöhnungsstation bedingt, mit welcher Motivation kommen eigentlich unsere Patienten?
Auf einer Entwöhnungsstation sollte diese Frage eigentlich nicht existieren: Idealerweise nehmen substanzabhängige Personen, sobald sie Probleme feststellen, zu einer Suchtberatungsstelle Kontakt auf, lassen sich beraten und gewinnen Einsicht darein, dass ihr Konsum ein Problem ist, sprich, dieser reduziert werden oder aufhören soll. Anschließend geht es weiter auf eine Entzugsstation, auf der die Patienten darüber aufgeklärt werden sollen, dass es mit der Abstinenz meist nicht so einfach ist und diese fast immer mehr als drei Wochen qualifizierten Entzug benötigt. Hier sollte Ihnen vermittelt werden, dass man anschließend noch eine Selbsthilfegruppe besuchen oder, wenn die berufliche Leistungsfähigkeit eingeschränkt ist bzw. die Sucht mehrere Lebensbereiche umfasst, vorher noch eine Entwöhnung stattfinden sollte. Im Idealfall kommen in eine Entwöhnungsbehandlung also Patienten, die selbstständig abstinent sein wollen, aufgeklärt sind und ihre Leben verändern möchten. 
Wie man aber schon beim Überfliegen merkt, stehen im Text ganz schön viele „sollte“, woran deutlich wird, dass die Realität dem Ideal nicht gerecht wird.

Samstag, 9. Mai 2020

Schreiben gegen das Vergessen



Liebe Leserin, lieber, Leser, im Blog gibt es eine neue literarische Anregung, diesmal eine sehr persönliche Betrachtung im Zusammenhang mit Isabel Allendes Lebensroman "Paula", geschrieben von Dr. Renate Kremer, Heidelberg.
Hier ist der link zu unserer Seite "Lesenswert!"

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Montag, 4. Mai 2020

Begegnungen in Zeiten mit Covid 19







Die Fülle an Begegnungen, mit der Natur, mit Menschen, wollte heute kein Ende nehmen. "Protect me from what I want"* - das hatte ich heute Morgen in Werner Balzers herausforderndem Buch "Das Sensorische und die Gewalt: Zum Seelenleben im digitalen Zeitalter" gelesen... Ja, und gleich Wikipedia gedrückt... Jenny Holzer... nie vorher gehört, nie etwas von ihr gesehen, gelesen...

Dienstag, 21. April 2020

"...hoffentlich können wir morgen noch reden..."


Zeichnung: Dank an Frederick, 3 Jahre





„Es will uns scheinen,
    als hätte noch niemals ein Ereignis
 so viel kostbares Gemeingut
der Menschheit zerstört,
 so viele der klarsten Intelligenzen verwirrt, 
so gründlich das Hohe erniedrigt.“
 S. Freud, „Zeitgemäßes über Krieg und Tod“ (1915)


Vor ein paar Jahren, als ich die Universität beendete, stellte ich in meiner Diplomarbeit paranoide Wahnvorstellungen als Werkzeuge dar, welche eine psychische Struktur zu stabilisieren versuchen. Eine Struktur, die sich oft aufgrund eines ungewöhnlichen und ausladenden Ereignisses abbaut, zerbricht, oder gar ganz verschwindet. Die Wahnvorstellungen wären in diesen Fällen also so etwas wie Klebstoff,

Samstag, 7. März 2020

Fragen fragen V


Ein Patient aus einer Einzeltherapie steht pünktlich zur 38. Sitzung unerwartet mit seiner Frau vor der Türe und fragt, ob sie heute mal mit ins Gespräch kommen könne. Was würden sie tun?


Zugegeben, bis vor meine Praxistüre brachte ein Patient eine Frau oder Ehefrau selten mit. Die Frage ist erlaubt, warum da eine Leerstelle in meinem sonst guten Gedächtnis ist? Dass Männer an einer Sitzung der Frau teilnehmen möchten, oder hin und wieder unerwartet in Begleitung der Ehefrau vor der Praxis standen, erinnere ich durchaus häufiger.

Freitag, 28. Februar 2020

Ist es wieder soweit?!


Add-on  mit  interaktioneller  Potenz



„Ist es wieder soweit?!“ Diesen oder einen ähnlichen Ausspruch höre ich mit großer Zuverlässigkeit alle fünf Sitzungen von meinen PatientInnen. Ich lächle vielleicht und nicke, während ich versuche, einen entschuldigenden Gesichtsausdruck zu vermeiden. In den anschließenden Äußerungen zeigt sich etwas mehr von meinem Gegenüber: „Schon die 25. Sitzung?!“ vorgebracht in erleichtertem oder ungläubigem Tonfall, manchmal begleitet von erschrocken geöffneten Augen. Eine andere Patientin öffnet verlegen ihre Tasche mit den Worten: „Diesmal verliere ich die Zettel hoffentlich nicht…“, gefolgt von einem seufzenden „Ich weiß nie, was ich da ankreuzen soll.“