Mittwoch, 29. November 2017

Bedrohte Räume (Germanwings)



Moderner Beichtstuhl, mit Abhörgefahr



Es ist immer wieder einmal ein Thema: Wie sollen die Träger von Berufsgeheimnissen damit umgehen, wenn ihnen etwas Aufrüttelndes berichtet wird, etwas, das die Allgemeinheit betrifft, wie etwa ein geplanter Banküberfall; oder etwas, das das Nachbarmädchen eines Patienten in Gefahr bringt, zum Opfer seiner perversen Sexualität zu werden. Es gibt eine das Rechtsempfinden des Einzelnen oft verstörende Rechtslage
und es gibt so etwas wie ein Rahmenprogramm der Regeln, an das man sich als Behandler zunächst grob halten kann – ist die Ehefrau des Patienten schon ermordet, liegt also tot im Doppelbett, dann darfst Du als Therapeut aus eigener Initiative niemals etwas sagen; Vergangenes ist vergangen. Es sei denn, ein Polizist taucht auf, stellt sich als Kommissar vor und sagt knapp, "das ist hier eine Mordermittlung, und wenn Sie nicht kooperieren, dann kann ich auch eine Praxisdurchsuchung veranlassen!" Ist der Mordversuch gescheitert und der Patient erzählt Dir, als er zur Therapiestunde aufbrach, habe sie, die Untreue, die Verhasste, die ihn quälende Gattin, auf den weißen Laken liegend noch gelebt, das Messer zwischen ihren Rippen, dann musst Du das unverzüglich melden. Denn Du könntest Leben retten. Und wenn der Mordplan noch gar nicht in die Tat umgesetzt wurde, Du aber Anhalt dafür hast, dass das eventuell geschehen könnte – dann musst Du abwägen. Reden, argumentieren, alles Erdenkliche ausloten an Hilfen, die Katastrophe zu verhindern, dir Gewissheit verschaffen, dass der Patient nicht etwa mit wilden, vielleicht für ihn heilsamen Phantasien (und seinem Vertrauen in Dich) an seinen Nöten arbeitet, sondern mit konkreten Plänen. Da Selbstmord auch eine Form von Mord ist, bei der wenngleich Leib und Leben Dritter verschont sind, gilt hier das gleiche Procedere.

Der Bruch der Schweigepflicht gilt in der Rechtssprechung als ultima ratio. Das Berufsgeheimnis ist ein hohes ethisches Prinzip. Es wahrt nicht nur die Würde des Patienten, es wahrt auch die Würde seiner Krankheit, die sein Schicksal, seine persönliche Tragödie beinhaltet.

Klar, es gibt Situationen, in denen der Bruch gestattet, sogar gefordert wird; doch die Sache kann auch nach hinten losgehen. So hat man sich seit kurzem von der gesetzlichen Auflage verabschiedet, Ärzte zu verpflichten, bei Anzeichen von Gewalteinwirkung durch Dritte bei einem verletzten Patienten die Krankenkasse zu informieren; damit brachten sie diese Patienten, meist Frauen, erst richtig in Gefahr. Beim Einhalten der Schweigepflicht wie auch bei deren Bruch hantierst Du mit Dynamit. Du riskierst Explosionen – die Ruptur des Vertrauensverhältnisses mit Deinem Patienten genauso wie das Zerschellen einer Ehe, oder auch, wie im letzten Jahr, das tragische Zerbersten eines Flugzeugs in den französischen Alpen.
Unmittelbar nach dem Absturz der Germanwings Maschine wurde bekannt, dass der Pilot unter Depressionen litt und sich in psychiatrischer Behandlung befand. Und die Empörung war groß. Wie könne man depressive, suizidbedrohte Menschen überhaupt ein Flugzeug fliegen lassen; wie könne eine jahrelange psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung so kläglich scheitern und wie könne man, als Psychiater, so verantwortungslos übersehen, was zu passieren drohte und dann auch schließlich passierte? Und wie könne man da noch auf die Schweigepflicht pochen?
Wer versucht, Wasser ins Feuer zu schütten und die Wahrnehmung zu entdramatisieren, wird rasch zum Mittäter, vor allem aus der Sicht der Angehörigen, die mit dem Schmerz eines sinnlosen Verlustes kämpfen. Doch wo ergibt sich eine tragfähige Handlungsalternative? Schärfere Kontrollen, härtere Tests, neuerdings eine „flugmedizinische Datenbank“ werden gefordert. Die Hauptfolge solcher struktureller psychiatrischer Daumenschrauben wäre nicht etwa eine Selektion gesünderer Piloten für die Auswahl der Auszubildenden oder für die spätere Stellenvergabe. Die Hauptfolge wären bedrohte Räume. Diese 14, 15 oder 20 Quadratmeter umfassenden Inseln des Therapeut– Patienten–Dialogs, die der Leistungs-, Coolness- und Selbstoptimierungskultur trotzen sollen, die einen Ort aufrechtzuerhalten versuchen, an dem Masken fallen gelassen, Verzweiflung geäußert und Tränen geweint werden können - einen Ort ohne Smileys, Selfies, Live-Votings und strategische Selbstdarstellung - diese letzten Enklaven existentieller Begegnung inmitten unserer Gewohnheiten der Direktübertragung, der Dataclouds, des „Angemeldetbleibens“ und „Passwortspeicherns“ würden zerfallen und einer Überwachungsmentalität weichen, die mit Gegenkontrolle seitens der Betroffenen beantwortet würde. Und schon würden, zusätzlich zu längst etablierten Suizidratgebern, auch zu diesem Thema Tipps im Netz erscheinen: Unter der Rubrik Das könnte sie auch interessieren entstünden Online-Kurse, wie man die Fragen der Psychospezialisten beantworten, was man sagen und was man nicht sagen solle. Das Prinzip der Selbstvermarktung in der Psychiatrie und Psychotherapie, bei den Behandlern längst angekommen, wer weiß, bei den Patienten vielleicht auch, würde breit Fuß fassen. Nicht erst einmal habe ich es erlebt: Der erfahrene Chefarzt X entlässt den gut gebesserten Patienten Y nach drei Wochen aus der intensiven stationären Behandlung, Handschlag, Dankbarkeitsbekundung, Kurzbrief in die Hand, eine Stunde später hängt Y an einem Baum im Nachbarwäldchen. Es gibt Schreckliches, das nicht verhütet werden kann. Ohnmacht ist eine Weise des Menschseins, um eine berühmtgewordene Bemerkung des Internisten Victor von Weizsäcker frei abzuwandeln, der diesen Satz einmal bezüglich Krankheit formulierte. 

Vertrauen bildet die unumstößliche Basis einer psychiatrischen und psychotherapeutischen Behandlung. Wer sich anschickt, diese zu beschneiden, wird abstürzen ins verschlammte Meer der Pseudobegegnung und Patientenverwaltung. Wenn Behandler zu Wachposten mutieren, werden sie die Zahl der verzweifelten Schiffbrüchigen vergrößern. Denn die Hilfesuchenden können nicht mehr hoffen, auf ein Gegenüber zu stoßen, das aufnimmt statt aufschreibt. Sich in die Obhut eines Behandlers begeben: Respekt sei jedem gezollt, der es seiner Hoffnungslosigkeit zum Trotze wagt.



Doris Normann

HIP - externer Dozentenkreis

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