Dienstag, 2. August 2016

Engels Entdeckung


„…aufgrund jenes Anachronismus, durch den 
so oft der Kalender der Tatsachen 
mit dem Kalender der Gefühle nicht zusammenfällt …“
 (aus: M. Proust, Sodom und Gomorra)


Zu Gedenktagen haben nur die wenigsten Leute, die ich kenne, ein entspanntes Verhältnis. Zur Jährung eines Todestags zum Beispiel
gehen die Angehörigen, zumindest in den ersten Jahren, an´s Grab, nicht ohne es zuvor ansehnlich herzurichten. Und zum Geburtstag wird angerufen, gemailt, geschrieben, beschenkt und gefeiert. Es gibt Ausnahmen, aber die bestätigen nur die Regel: ich kenne einen Mann, dessen Familie es schon immer nicht so genau nahm mit den Geburtstagen ihrer einzelnen Mitglieder. Also, jedenfalls behauptet er das. Da hätte man schon mal, ooops, einen oder zwei Tage später gratuliert oder auch mal glatt den Ehrentag der Mutter, Großmutter oder des eigenen Bruders ein paar Wochen lang vergessen. Allerdings handelt es sich da um eine binationale Familie, also halb Franzosen, auch noch aus dem laissez-faire-Süden, da kann man es schon fast wieder glauben, ich vermute nämlich, dass die Deutschen besonders ernst umgehen mit dem Thema. Bin ich der Erste? wird man dann vom erwartungsvollen Gratulanten oft am Telefon gefragt, wobei er den eigenen Stolz über diesen erhofften frühmorgendlichen Leistungsnachweis nur mühsam unterdrücken kann; Gratulation muss sein. Das Gedenken ist so eine Art mitmenschliche Pflicht, soll bloß keiner sagen, man hätte nicht gratuliert, zeitnah kondoliert, sich feierlich erinnert, und sich den Tag selbst-verständlich empathisch-mathematisch gemerkt! Die menschliche Qualität selbst einiger Bundesligatrainer wird ja zuweilen von wohlgesonnenen Sportjournalisten daran bemessen, dass sie die Geburtstagsdaten der Kinder ihrer Spieler horten und zuverlässig darauf reagieren. Es blitzen hier und da, zum Beispiel bei diesen extra mit hübschen Blumengirlanden designten Kalendern wie auch bei den modernen elektronischen Erinnerungshilfen, beinahe kämpferische Motive auf: man möchte nicht hinterrücks vom Gedenktag überfallen werden, man will ihm ins Auge sehen, you have to face it. Insbesondere bei den oft aufwändigen Festen zum Geburtstag treten archaische Kräfte an die Oberfläche, die man kaum noch einordnen kann, psychoanalytisch betrachtet. Irgendwas zwischen Zen und Depression bahnt sich da seinen Weg, und ein lieber Freund, der seinen 50. Geburtstag entgegen seiner sonstigen Gepflogenheiten groß feierte, sagte mir zur Erklärung: „Gedenktage begehen ist ein Akt der Selbstachtung!“ Große Worte, halbe Spanferkel und würdige Reden.

Bei den überindividuellen Anlässen, also sagen wir, dem zwölfhundertsten Stadtjubiläum, dem Ende des zweiten Weltkrieges oder dem Todestag Beethovens, konnte ich das große Kino schon immer mühelos verstehen und sogar gut heißen: ich fand es wichtig, aus Vergangenem zu lernen und Altes zu beleben. Bei den persönlichen Tagen blieb es stattdessen lange bei meinen Schwierigkeiten, nicht allzu sehr drüber zu schmunzeln oder … einfach das Weite zu suchen, wenn es wieder galt anzutreten, zum fröhlichen Feiern, bedächtigen Gedenken oder seligen Erinnern – wahrscheinlich spielte bei meiner jugendlichen Nein-Danke-Attitüde auch noch mein Argwohn gegenüber der Vergänglichkeit eine Rolle. Doch durch meinen Beruf wurde ich eines Besseren belehrt. Und durch George ENGEL.

Engel war zu Beginn seiner eindrucksvollen Medizinerlaufbahn ein stahlhart biologisch denkender Psychiater gewesen und allem, was nach Psychosomatik oder gar Psychoanalyse roch, ausgesprochen skeptisch gegenüberstehend. Doch der Kerl war unermüdlich im Reflektieren und Verwerten seiner klinischen Erfahrungen; er wandelte sich zu einem bedeutenden Psychosomatiker und schrieb kistenweise Briefe, Publikationen und Aufsätze darüber, wie Medizinstudenten besser hinhören lernen könnten, die Gesundheitssysteme Amerikas sich erneuern sollten und … aufgrund persönlicher, schmerzlicher Erfahrungen schließlich auch über die sogenannten Jahrestagsreaktionen. Engels Zwillingsbruder war an einem plötzlichen Herztod überraschend gestorben. Und ein Jahr später bekam Engel selbst einen Herzinfarkt. Er hatte Glück, starb daran nicht, sondern spannte daraufhin seine wissenschaftlichen Kräfte ein, um diesem Phänomen der anniversary reaction auf die Spur zu kommen;  er hatte den Todestag seines Bruders nicht einmal bewusst erinnert, aber sein Körpergedächtnis hatte ihn gespeichert. Er stieß auf unglaubliche Zusammenhänge; auf einen gesunden adoleszentären Jungen zum Beispiel, der eines Tages plötzlich an einer Hirnblutung wegen einer Arterienanomalie verstarb  - am gleichen Tag, an dem sein älterer Bruder ein Jahr zuvor bei einem Autounfall ums Leben kam. Dass selbst verdrängte Daten wirksam werden konnten – bei seinen entsprechend untersuchten Patienten einen Selbstmordversuch, einen aufwühlenden Traum, eine körperliche Erkrankung oder sogar den eigenen Tod auslösen konnten – war eine ihn faszinierende Entdeckung.

So gesehen, scheint mir am Bemühen, das Gedenken möglichst bewusst zu gestalten, doch etwas sehr Schlüssiges zu haften: es dient nicht nur, beim stereotypen männlichen Hochzeitstagvergesservolltrottel, der Abwendung eines Ehekrachs, sondern es soll noch viel umfassender der ohnmächtigen Auslieferung an den „Seelenkalender“ präventiv entgegenwirken. Was allerdings auch nicht zu 100 Prozent gegen eine anniversary reaction feit; so beschrieb Engel einen Mann, der zum 5. Todestag seiner Ehefrau, einer Pianistin und Klavierlehrerin, einer Gedenkfeier zu ihren Ehren beiwohnte, also er dürfte den Tag der Tage wirklich mit allen Sinnen präsent gehabt haben – und während der Veranstaltung tot zusammen brach.

Nicht nur Engel, auch ich war lernfähig. Ich habe mir jedenfalls angewöhnt, bei meinen Patienten ganz gezielt nach dem Datum zu fragen, seien es Todestage von Angehörigen, Geschäftseröffnungen oder Konkursanmeldungen, Fehlgeburten oder Hausbrände. Die Patienten finden das, glaube ich, manchmal ein bisschen erbsenzählerisch. Wenn die Mutter im Mai vor zehn Jahren gestorben ist, sollte das doch reichen, warum noch besprechen, am wievielten Mai? Und wenn sie den wievielten Mai nicht benennen können, schreib´ ich mir mit rotem Textmarker noch Achtung Engel! dazu. 



Doris Normann 

HIP - externer Dozentenkreis

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