Mittwoch, 23. November 2016

Rosenkriege




Es gibt bei psychotherapeutischen Behandlungen, oder, sagen wir besser, bei psychotherapeutischen Beziehungen zwischen Behandler und Patient, einige klassische Fallstricke, an denen sich häufig der gesamte weitere Verlauf der Sache orientiert, so wie bei der Weichenstellung bei einem Zug.
Im Gegensatz zur Weichenstellung der Schienen, die über die weitere Richtung des Gefährts entscheidet und ihm eine mehr oder weniger interessante Weiterreise erlaubt, ist allerdings bei den Weichenstellungen in der Psychotherapie das Ergebnis unter Umständen, dass die Therapie endet oder, um im Bild zu bleiben, dass der Patient (gelegentlich auch sein Therapeut) aus dem fahrenden Zug springt, weil es ihm zu blöd wird, und das war´s dann. Scheidung nach 26 Sitzungen.


Zu solchen bedeutsamen Vorkommnissen zählt zum Beispiel, wenn eine Therapeutin schwanger wird. Das kann sie ja, sagen wir mal, ab dem 4. bis 5. Schwangerschaftsmonat nicht mehr so gut verbergen und der Patient beginnt sich zu fragen, ob er die Therapeutin an den Inhalt des Bäuchleins demnächst verliert oder ob sie ihm überhaupt noch genügend Aufmerksamkeit schenkt. Ein weiteres Vorkommnis ist zweifellos, dass der Therapeut etwas sagt, was den Patienten kränkt. Kränkungen gelten als eine häufige Nebenwirkung von Psychotherapie. Im besten Falle verdaut es der Patient irgendwie, im mittelguten Falle nimmt er sich vor, sich nicht mehr so arg auf die Therapie einzulassen und ein Pokerface zu machen, und im schlechtesten Fall bricht er die Behandlung ab. Dagegen hilft, im Zweifelsfall lieber nix zu sagen oder sich im diplomatischen Formulieren solange zu üben, bis der Dialog vor lauter Höflichkeit keine Wirkung mehr hat. Doch alles in allem gibt es kaum eine schicksalhaftere Situation als die, dass der Therapeut sein sogenanntes Ausfallhonorar verlangt.

Die Rechtssprechung billigt den Therapeuten zu, dass sie sich bei kurzfristigen Terminversäumnissen ihrer Patienten den entstandenen finanziellen Schaden von diesen erstatten lassen dürfen. Es ist ja auch tatsächlich fraglich, ob ein Therapeut bei schlechtem Wetter, Salmonellen in der Grundschule oder Hochzeit einer ihm unbekannten Patientennichte mal eben zehn Prozent weniger verdienen sollte als sonst. Aber einfach ist das Fordern von Ausfallhonorar, vornehmere Therapeuten sprechen von Berechnen des Bereitstellungsgebühr, nicht gerade – weder für den Therapeuten noch für seinen Patienten. Es geht schon damit los, dass der Therapeut das zu Beginn der Therapie einmal vereinbarte Honorar dann ja auch tatsächlich einfordern muss und er sich dabei unter Umständen charakterlich so schlecht fühlt, dass er es dieses eine Mal noch nicht verlangt. Denn wenn die vierjährige Tochter wegen Kopfläusen nicht in den Kindergarten gebracht werden kann, der Motor des VW Golf morgens nicht angesprungen ist oder der Chef des Patienten dreist eine Teambesprechung anberaumt hat… irgendwie obsiegt doch meistens das Gefühl, dass man für seinen Patienten Verständnis haben sollte  und erst in zweiter Linie für das eigene Portemonnaie. Aufgrund der entstehenden Gewissensnöte, die das Thema Geld oder Liebe entfacht, erblühen dann manchmal so wachsweiche Abwandlungen der Regelung, also wenn der Patient selber krank ist, muss er nicht bezahlen, wenn seine Oma krank ist, aber doch, oder umgekehrt; wenn gestreut ist auf den winterlichen Straßen, muss er bezahlen, wenn es Glatteis gibt, nicht. Wenn das kranke Kind unter zehn ist, darf er ohne finanzielle Folgen zuhause bleiben und ihm Tee kochen, wenn das Kind elf ist, nicht. Wenn der Patient 24 Stunden vorher absagt, ist es okay, wenn er 20 Stunden vorher absagt, bekommt er eine Rechnung. Irgendwie ist das total unbefriedigend und außerdem gibt es ja auch Patienten, die für ein einziges Ausfallhonorar sieben bis acht Stunden arbeiten müssen, da fragt man sich dann doch, ob es wirklich einen Gott gibt, wenn er sowas Ungerechtes zulässt.

Als ich mich in der Ausbildung befand, waren die Zeiten aber noch viel härter als heute. Ich erhielt von meinem Lehranalytiker jeweils zu Beginn eines Jahres ein, wie er es nannte, "Billett", da war handschriftlich fein säuberlich aufgeführt, wann er gedachte, im betreffenden Jahr in Urlaub zu fahren. Wenn ich mich bemühte, meinen Urlaub so zu legen wie seinen, dann entstanden mir keine Kosten. Und wenn ich zu anderen Zeiten nicht da war, weil mir wegen eines Katers aus Liebeskummer schlecht war oder die Beerdigung meines Großvaters anstand, dann war das mein Problem. Jedes Mal waren sage und schreibe 120 Mark fällig.
Patienten sind außerordentlich einfallsreich, wenn es darum geht, die Härten der Ausfallregelung selbstfürsorglich abzupuffern; sehr beliebt ist der gönnerhafte Vorschlag „rechnen Sie ruhig die Stunde über meine Krankenkasse ab“, womit du dich ja schon an den kriminellen Rand des Abgrundes begibst, wenn du so etwas auch nur ansatzweise in Betracht ziehst. Eine weitere Hintertür tut sich auf, indem der Patient behauptet, das habe der Therapeut ihm nie gesagt und daher gelte diese Regelung nicht. Hier gibt es eine auffallend hohe Zahl von Amnesien. Manche verkünden dir, sie würden das Honorar überweisen, tun es aber nicht. Du fühlst dich wie der alte Geizhals Dagobert Duck und sagst ihnen jede Woche auf´s Neue, dass noch die Überweisung ausstünde. Sie sagen dann „ooops, habe ich vergessen, aber ich mache es noch!" Ausgesprochen elegant, wenn auch seltener, empfinde ich die Lösung, dass der Patient in dem Moment, in dem er eine Sitzung verschlafen, vergessen oder verpeilt hat, ohne weitere Kontaktaufnahme gleich mal die ganze Therapie abbricht und nicht mehr erreichbar ist. Das ist für das Selbstbewusstsein des Therapeuten nicht gerade förderlich, denn es zeigt dir doch auf subtile Weise, dass du sehr wertvoll für den Patienten bist – solange die Kasse bezahlt und es ihn nichts kostet. Irgendwie erinnert die ganze Thematik doch sehr an die Rosenkriege, die entstehen, sobald ein Paar sich trennt. Man wirft sich gegenseitig vor, dass man dem anderen so wenig „wert sei“, und über´s Geld wird dann der Rest der zwischenmenschlichen, einst engen Beziehung unter lautem Gezeter abgewickelt.
Eine meiner Kolleginnen war sich meiner neidischen Bewunderung sicher, weil sie ihr Ausfallhonorar einforderte mit dem Durchsetzungsvermögen einer Dampfwalze. Immer blieb sie cool, kriegte was sie wollte und hatte noch nicht mal ein schlechtes Gewissen. Den Oberhammer ihrer Ausfallhonorar-Geschichten bildete eine Patientin, die während des Sommers ihre Montagabendstunde öfters absagte, da ein schöner Sonnenuntergang zu erwarten wäre und ihr Partner dessen gemeinsamen Genuss von ihr verlangen würde. In unserer kollegialen Besprechungsgruppe wuchs das Verständnis für die Patientin, denn die konnte ja im Grunde nichts dafür, dass die Sitzungen ausfielen, da sie neurotisch überangepasst an die Erwartungen ihres Partners sei. Außerdem gaben wir meiner Kollegin zu bedenken, dass ja aufgrund kosmischer Gesetze damit zu rechnen war, dass die Therapiesitzung spätestens im Herbst wieder aus der zeitlichen Kollision mit dem Naturspektakel herausfallen werde. Aber die Zuchtmeisterin blieb hart. Eines Tages ging es ihr aber dann doch an den Kragen, denn sie versetzte mal einen Zahnarzt, weil sie dessen Therapiestunde wegen akuten Durchfalls ihrer Siamkatze absagte. Er entgegnete ihr, so etwas würde aber in Zukunft teuer, denn in der Zeit, in der er sinnlos hin- und zurückgefahren sei, hätte er ein Implantat setzen können. Sie beriet sich mit einem befreundeten Rechtsanwalt und dann noch mit der Psychotherapeutenkammer, aber es war nicht wirklich was zu machen, allerorten gab man dem Zahnarzt recht. Seither sucht sie sich Patienten aus, die nicht als Zahnarzt tätig sind und die ihr darüberhinaus versprechen, nie eine Zahnarztpraxis zu eröffnen.

Was bei Kosmetikterminen, Tagungsanmeldungen oder Reisebuchungen völlig üblich und akzeptiert erscheint, gerät bei der Psychotherapie zur Nagelprobe der Realität. Leider verwehren sich einige Patienten dieser Prüfung, und irgendwie kann man´s verstehen: bezahlt zu werden, ohne gearbeitet zu haben, das leuchtet den meisten Leuten nicht ein, denn der Therapeut ist doch ein Vertreter der Menschlichkeit, und, ehrlich gesagt, in schwachen Stunden denke ich selber, das ist ein dickes Ding, grundsätzlich so zu tun, als habe man ein Anrecht auf die Stundenmiete. Wir Therapeuten sind weder Immobilien noch … direkt im horizontalen Gewerbe tätig, wobei in mir jetzt doch die Frage aufkeimt, ob eigentlich dort … vermutlich nicht, denn da geht es um spontane Laufkundschaft ohne Vorbestellung, aber bei den Edleren unter den Gewerbetreibenden könnte ich´s mir dann doch vorstellen, dass kurzfristige Stornierungen ihren Preis haben. Wirklich knifflig, die ganze Sache!





Doris Normann
HIP - externer Dozentenkreis



1 Kommentar:

  1. Die Menschen lernen viel weniger aus Büchern, Unterrichtungen und Ratschlägen und viel mehr durch Abkucken. Darum, und um überhaupt glaub- und vertrauenswürdig zu sein, kann und sollte eine Psychotherapeutin auch in manchem ein Vorbild sein. Die meisten der Patienten achten sich selbst eher zu wenig und haben eine mehr oder weniger ausgeprägte Ich-Schwäche. In diesem Sinne kann ein Therapeut sogar betont stolz seine ihm selbstverständlich zustehenden Interessen vertreten und, damit übereinstimmend, gleichzeitig den Patienten oft auffordern, selbiges im Leben auch immer zu tun. Wie gesagt: um glaubwürdig zu bleiben und nicht selbst eine jämmerliche Figur abzugeben.

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