Dienstag, 10. Januar 2017

Zum » Wort des Jahres 2016 «







Kürzlich wurde «postfaktisch» zum Wort des Jahres gewählt und setzte sich damit, Trump sei Dank, gegen «Brexit» und «Silvesternacht» durch. Dass dieses Wort im Jahr 2016 eine deutliche Strahlkraft hatte, ist klar; nicht klar ist eher, warum es nicht zum Unwort 2016 wurde,
schließlich ließe es sich, wie Felix Stephan in der «Zeit» bereits darstellte, auch als «falsch» synonymisieren. Setzen wir die Psychodynamikerbrille auf, können wir das natürlich nicht so stehen lassen. Also vielmehr: Es ist immer noch falsch, aber eben noch etwas mehr als das – und es macht mir Unbehagen.

Ein anderes Wortpaar, das mir eng mit «postfaktisch» verbunden scheint, ist «Gefühlte Wahrheiten». Wir reden hier, verwirrend genug, natürlich nicht von (faktischen?) Wahrheiten. Genau genommen reden wir über verschiedene «cognitive biases», die unsere Wahrnehmung verzerren, über Heuristiken, die wir benutzen, um das komplexe Leben um uns herum schneller begreifen zu können – hier nicht gemeint als die verständliche, wenn auch etwas arrogant klingende Kritik am weißen Mann mit schlechter Bildung: Auch ich benutze sie regelmäßig und habe eine recht ordentliche Portion Bildung erhalten. Ich verhalte mich gewissen Menschen gegenüber immer wieder auf ähnliche Art und Weise (obwohl ich einigen von ihnen nie zuvor begegnet bin), ich nehme manchmal Dinge wahr, die gar nicht da sind (sagen wir: Kritik von einem Zuhörer) oder nehme Dinge nicht wahr, die da sind (zum Beispiel: Kritik von einem Zuhörer). Oder wenn ich die Dinge zur Abwechslung mal wahrnehme, dann nicht in der Art oder in dem Ausmaß, in dem sie gemeint waren. Was also macht mir so Unbehagen am «Postfaktischen»? Immerhin verdienen wir damit ja unser Geld: Kaum jemand redet so viel mit Menschen über das, was sie fühlen, für richtig oder falsch halten, wie wir. Wir arbeiten mit diesen Gefühlen. Und dann sind es doch diese gleichen Gefühle, die wir in Therapieräumen hegen und pflegen, die zu so schrecklichen Entscheidungen in der Welt außerhalb des Therapieraums führen? Sozusagen als «sensum tyrannis»? Alles bloß Agieren?

Schauen wir uns das mal genauer an.

Vieles in meinem Leben entscheide ich danach, ob es sich «richtig» anfühlt. Ich muss schließlich ständig auf Grundlage unzureichender Daten Entscheidungen treffen. Beispielsweise die Wahl zwischen Mohn- oder Sesambrötchen, um mal bei tendenziell Positivem zu bleiben. Im schlimmsten Fall (meistens Sesam) treffe ich die für den Moment falsche Entscheidung und mein Frühstück ist nicht so schön, wie es hätte sein können [Hätte meine Mutter Sesam genommen? Reden wir hier von einer Identifikation?]. Damit muss ich leben. Das geht mal besser [Ich entscheide mich, ein Buch zu lesen, etwas zu schreiben, Sport zu machen – sublimiere also.] und mal schlechter [Ich versuche die unzureichend befriedigten oralen Bedürfnisse mit mehr Nutella auf meinem Sesambrötchen zu stillen, als mir gut tut.]. Anders ausgedrückt: Nicht alles, was sich «richtig» anfühlt, ist Mohn. Zumal es in sich schon bizarr ist zu versuchen, «richtig» und «Gefühl» zu vermengen. Die Frage ist: Wie komme ich initial darauf, dass meine Gefühle korrekt sind? Oder besser noch: So unmittelbar korrekt sind? Es fällt mir ja schon schwer genug auseinanderzuhalten, was wohl von meinen primären Objekten stammt und was von mir.

Geht es bei all den Problemen in der Welt draußen letzten Endes etwa gar nicht um «richtige Gefühle», «gefühlte Wahrheiten» oder «Postfakten»? An dem Punkt, an dem wir uns entschieden haben, den anderen nicht mehr einfach zu erschlagen, wenn uns danach war – zum Beispiel wegen einer Affäre –, sondern das Ganze anders zu lösen [Etwa durch eine hübsche Verschiebung, wie das Demolieren seines oder ihres Autos oder noch besser eine Sublimierung, wie das Schreiben eines herzzerreißenden Romans darüber.], hätte das doch überwunden sein können. Es scheint mir um das Aushalten unangenehmer Gefühle und das Ertragen des Realitätsprinzips zu gehen. Sesam war die falsche Wahl. Die Partnerin/der Partner vielleicht auch. Sich jahrelang nicht an Psychotherapieforschung zu beteiligen ebenso. Soziale Ungleichheit zu vernachlässigen, die Augen vor Problemen zu verschließen, zu verdrängen. Ja. Auch das. Ich kann mich über das Frühstück ärgern. Über die Frauen (oder Männer). Ich kann die Verhaltenstherapeuten unerträglich finden in ihrem Evidenz-Wahn. Emotional ist das einfacher. Im psychodynamischen Denken nennt sich das Abwehr. Das ist oft nützlich. Meist schmerzlindernd. Allerdings auch lähmend und fast nie die adäquate Antwort auf ein Ereignis.   «Wo Es war, soll Ich werden», erscheint plötzlich sinnvoller.
Gefühle sind etwas Großes. So groß, dass man manchmal kaum gegen sie argumentieren kann. Wie auch: Sie liegen eine Ebene tiefer, sind archaischer, roher. Sie können in ihrer Rohheit wundervoll und sie können schreckliche Trümmerlandschaften sein. Sie helfen uns, uns selbst zu erkennen. Und sie dürfen, unverstanden, nicht die Grundlage unseres Handelns sein.


Anmerkung 1: Ich glaube nicht, dass die Psychodynamik (als Denkrichtung und Berufsfeld) die Welt retten kann. Zumindest nicht allein. Aber sie kann genau wie jedes andere Gebiet ihren Beitrag leisten – oder eben nicht. Ihre Wahl.

Anmerkung 2: Auch interessant, wenn Sie schwere Lektüre und die politische Verantwortung von PsychodynamikerInnen schätzen: Climate Crisis, Psychoanalysis, and Radical Ethics (2016) von Donna Orange.


Jan-Erik Grebe, 
HIP - externer Dozentenkreis, ehem. Jhg. 2010

1 Kommentar:

  1. Sehr gute Gedanken und Formgebung! Wenn ich weiter denke: die freie Meinungs- und Gefühlsäußerung, so verdreht sie auch sein mag, und deren Diskussion ist also immer etwas Gutes, aber die Überführung der unverstandenen Gefühle in eine Handlung oft etwas Schlimmes. Das mag sogar bis in organisierte Ebenen (Politik) gelten (Populismus, Propaganda, und Leute die darauf hereinfallen, so lange sie sich nur verbal abreagieren. Auch seinen Henker zu wählen ist nur eine schriftliche, möglicherweise eine masochistische, Äußerung und muß deshalb gestattet sein). Und der Übersprung zur Handlung liegt an einem schmalen Grat. Wer verbal viel äußert, läuft auch mehr Gefahr in Handlung zu verfallen. Die Lebenskunst besteht also darin, möglichst oft und weit auf dem Grat zu gehen (das Unbehagen in der Kultur so klein wie möglich zu halten), ohne ihn zu übertreten. Und dabei entwickelt sich die Zivilisierung der Zivilisation immer weiter.

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