Montag, 6. Februar 2017

Alles muss raus! (Assoziationen zu Grebe: "Zum Wort des Jahres 2016")







Was auf den ersten Blick wie ein Sonderposten billigen, eher als minderwertig einzustufenden Materials aussieht, ist meistens auch auf den zweiten Blick ein Sonderposten billigen, eher als minderwertig einzustufenden Materials. Selbst auf den dritten Blick ist da keine Tiefendynamik drin. Die Österreicher nennen es Abverkauf,
und diese Vokabel finde ich ehrlicher, denn es geht weniger um was Besonderes, wie die Begriffe „Sonderposten“ oder „Sonderverkauf“ suggerieren, sondern das Zeug soll vor allem eins: weg.


Die psychotherapeutischen Vorgehensweisen, methodischen Schwerpunkte und Techniken haben sich, warum auch nicht, seit FREUDs Anfängen im Laufe der Jahrzehnte immer wieder gewandelt. Der Psychoanalyse wird ja gern vorgeworfen, dass FREUD in dem und jenen Punkt veraltet sei oder in dieser und jener Annahme geirrt habe – als sei es ein Zeichen von Qualitätsmangel oder schamloser Scharlatanerie, wenn eine Behandlungsmethode von vor 100 Jahren nicht auch heute noch absolut up to date ist. Ich jedenfalls möchte nicht im Falle eines Gallensteinleidens auf die traditionelle Weise wie vor 100 Jahren behandelt werden – ohne dass dies für mich zugleich bedeuten würde, die Chirurgie sei als Fachgebiet nur ein nutzloses Überbleibsel unsinniger Fehlannahmen und daher ein obsoleter Sonderposten.

Aber dennoch kommt man, vor allem im wohlig-übersichtlichen Rückblick des historischen Urteils, nicht umhin, manche Auswüchse der Therapietechniken heutzutage etwas seltsam zu finden. Da war zum Beispiel diese encounter-Bewegung, die Anfang der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts erst nordamerikanische und später auch europäische psychotherapeutische Gruppenräume endemisch überzog; sie war eine notwendige Reaktion auf die Verkrustungen und Verleugnungen der Nachkriegsära. Es wurde gefühlt, geweint und geschnieft, Mut gemacht und getrauert, geschrien, geschüttelt und geschimpft, Händchen und Augenkontakt gehalten, was das Zeug hielt. Hauptsache Gefühle. In solchen Gruppen stand in der Mitte des absolut gerecht angeordneten Stuhlkreises eine Kleenexpackung und derjenige, der gerade dran war mit der kathartischen Woge, bekam von einem anderen, zumeist seinem Fühlvorgänger, mit einem gemütswärmend-empathischen Fußtritt die Packung vor seinen Stuhl gekickt, um sich die Tränen der Wut, des Zornes, der Scham und des Schmerzes abzuwischen. Man hielt zusammen. Du, lass´ es  raus, ich bin da! 
Wie es halt so ist, bleibt immer irgendwas hängen. Und aus den Siebzigern ist, so scheint mir, vor allem hängen geblieben, dass man alles rauslassen soll, was drückt, kneift, zieht oder sonst irgendwie stört. Dagegen ist ja nichts zu sagen; doch leider verhalten sich manche Menschen heutzutage im Alltag so, als befänden sie sich chronisch in einer encounter-Gruppe oder, wo es ja beispielsweise wirklich gut hinpassen würde, bei einem Rockkonzert mit Queen- oder Fleetwood Mac- Songs. Sie sind sozusagen im Dauer-Ehrlichkeits-Gefühle-Rauslass-Abonnement befindlich. Und da hört der Spaß dann auf. Frage ich einen Patienten, welche positiven Eigenschaften er bei sich selbst wahrnehme, so höre ich manchmal: Ich bin ehrlich! Das sagen bevorzugt jene von sich, die mit ihrer Umwelt Probleme haben, wobei, aus ihrer Sicht, ihre Umwelt Probleme mit ihnen hat, da diese die Wahrheit, und somit auch die von ihnen dargebotenen Gefühle, nicht erträgt. Ich sage alles ehrlich, so wie es ist!, verkünden sie stolz, und es ist dann gar nicht so einfach, diese scheinbar unantastbare und ichsynton empfundene Menschheitstugend kritischer unter die Lupe zu nehmen.

Doch, wie immer, müssen wir hier über den Tellerrand der Patientenbetrachtung weit hinaus- und bei uns selber hinschauen. Unser Hang zur absoluten Ehrlichkeit ist manchmal eher eine verbalisierte Form der Zumutung. Mir ist aufgefallen, dass die selbsternannten Ehrlichen besonders gerne über den Schatten anderer Leute springen. Ihre Äußerungen verfügen über eine inhaltliche Schlagseite zugunsten der Tendenz, anderen etwas Kritisches vor den Latz zu knallen, wenn sie sich emotional gestört fühlen. Im Gegenzug bezeichnen sich Personen, die besonders freundlich kommunizieren, anderen Wertschätzung oder gar Komplimente zukommen lassen und eher das Positive im Gegenüber konnotieren, nicht als ehrlich, sondern eher als bemühte Positivseher. Oder als Pädagogen ohne burn-out. Ehrlich gesagt … haben meine Bedenken bezüglich überstrapazierter Ehrlichkeit letztendlich auch berufliche Gründe. Zum Beispiel geht es bei beruflichen Treffen zwischen Mitgliedern ein und desselben Vereins gelegentlich so unbeholfen Axt schwenkend zu, dass man sich fragt, ob es sich bei den Akteuren wirklich um ausgebildete Therapeuten handelt. Da werden Kränkungen von Kollegen in Kauf genommen, jeder sagt eins zu eins, was er denkt (… und fühlt), anstatt zwischenmenschliche kommunikative Basics zu pflegen. Jedoch, so höre ich schon die imaginative Gegenrede, die Psychoanalyse sei doch mit einem „aufklärerischen Auftrag“ behaftet und brauche das offene Wort! Doch meiner Ansicht nach kann man auch aufklären, ohne dabei anderen in die Waden zu beißen.

Apropos aufklärerischer Auftrag: Bei den Journalisten hat sich die unbedingte Liebe zum echten großen Gefühl schon lange eingeschlichen; und da ständig irgendjemand irgendein Gefühl rauslässt, muss nachgefragt werden, wie stark die Emotion sei; aus Zeitspargründen wird das avisierte Gefühl bereits vorformuliert, so wie diese aus Osteuropa stammenden Teiglinge in unseren Bäckereien einfach nur noch fertig gebacken werden müssen vor Ort, um so etwas wie Originalität inmitten der weltumspannenden Mehl- nein!, Gefühls-Suppe zu erhaschen. Herr Bundespräsident, wie schön ist es für sie, wiedergewählt worden zu sein? Lieber Zugreisender, wie nervig ist es für sie, dass die Bahn schon wieder streikt? Und Frau Bundestrainerin, wie stolz sind sie auf ihre Frauenmannschaft nach diesem bahnbrechenden Erfolg? Die Befragten antworten voll ehrlich und lassen es einfach raus: mega, super, unglaublich, das Größte im Leben, „unheimlich wichtig“, „total nervig“, „wahnsinnig stolz“. Da fehlen oft die Worte, erkennbar an endlos strapazierten Begriffen wie z.B. Hammer, und zwar wirklich der Hammer!

Sind wir seit dem viktorianischen Zeitalter tatsächlich näher an unsere Gefühle rangekommen als früher? Vermutlich ja, aber warum müssen die immer raus? Und wohin gelangen die dann eigentlich? Lösen sie sich irgendwann auf? Oder muss man sich das so vorstellen wie beim Feinstaub in Stuttgart? Der hängt dann in der Luft herum. Und wird irgendwann dadurch die Sicht vernebelt? An solchen Tagen gibt´s in der Stuttgarter City übrigens S- und U-Bahn-Karten zum Kinderpreis. Außer Wahrnehmen und Kommunizieren, zwei klinischen Items basaler psychostruktureller Ausstattung, gäbe es, wie Herr Grebe es in Gedanken durchspielt, auch nach meiner Ansicht noch andere reizvolle Stufen des Umgangs mit den eigenen Gefühlen. Beim Abverkauf geht es ja darum, dass das Zeug keiner mehr will und die Lager sonst überquellen. Die Gelegenheit ist günstig. Ziemlich billig, das Ganze. Das ist offenbar kein Hindernis, nicht doch reißend zu verkaufen.

Doris Normann
HIP - externer Dozentenkreis

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