Montag, 2. Juli 2018

Vom Verschwinden der Dinge


213 cm hoch  gewordener  Himbeerstrauch, 
noch  immer  auf  ein  Himbeerstrauchgestell  wartend



An dieser Stelle sollte eigentlich der Juli-Text stehen. Leider ist er verschwunden. Korrekter: Gar nicht erst entstanden. Eigentlich müsste es also „Vom gar nicht erst Entstehen der Dinge“ heißen. Klingt nur nicht so gut. Aber machen wir so weiter. Warum entstehen die Dinge gar nicht erst? Verrückt, könnte man meinen, es gibt doch so viele Dinge. Ja, das stimmt. Nur: Vielleicht sind die Dinge mehr geworden, aber die Zeit dieselbe geblieben, und nun passen sie gar nicht mehr alle hinein in die Zeit – so als würde man Unmengen neuer Socken kaufen, aber die Sockenschublade ist eh schon knapp bemessen…
Das  betrifft auch Psychotherapeuten. Fertige wie solche in Ausbildung.
Es gibt die Dinge, die man vermeintlich tun muss, die die man tun sollte, tun möchte, etc. Kurz: Es sind zu viele Dinge. Scheinbar. Patienten sehen, das Alltägliche erledigen, Qualitätssicherung, Intervision, Supervision, Fortbildungen, Fachliteratur, vielleicht gar etwas wie ein Privatleben. Manche Psychoanalytiker alten Schlages sollen ja vor dem ersten Kaffee schon Fachartikel gelesen oder besser noch geschrieben haben. Ich gebe zu, ich habe da auch zwei oder drei gute Ideen für Fachartikel auf meinem Schreibtisch liegen. Seit ein paar Jahren. Immerhin habe ich mir vorgenommen, am Wochenende ein neues Gestell für meinen Himbeerstrauch auf dem Balkon zu bauen.
Leider schaffe ich es aber wohl nicht mehr, einen Blog-Artikel für den Juli zu schreiben. Das entsprechende Post-it liegt auch schon ganz nah bei den Notizzetteln für die Fachartikel. Woran liegt es also, dass so vieles nicht entsteht? Selbst mein Himbeerstrauchgestell ist noch vom Nichtentstehen bedroht. Wenn ich darüber nachdenke, fallen mir folgende Punkte ein:

1. Die Welt wird immer schneller, immer voller, immer komplexer. Sie ist überfordernd, wir kommen kaum hinterher. Die Ansprüche sind gestiegen… Die Liste ließe sich noch fortsetzen, ich würde diese Punkte assoziativ in die Kategorie „schlechte Mutter“ stecken. Eventuell auch „negative Idealisierung“, „Verantwortungsdiffusion“ oder vielleicht „kognitive Dissonanz“. Sind das hier jetzt eher Verdrängungsmechanismen, Projektionen oder bewegen wir uns da schon in Richtung gröberer Mechanismen?

2. Valenzen oder auch Lust und Unlust. Kurz gesagt: Mein Über-Ich findet die Vorstellung, einen Fachartikel (oder auch unseren Juli-Artikel für den Blog) zu schreiben, sehr anziehend. Mein Es nicht. Warum auch? All die Mühe, um mir nachher die Kritik der Kollegen für die unsaubere Thesenbildung anhören zu dürfen? Nee. Da erscheint das Himbeerstrauchgestell vielversprechender. Da gibt es immerhin Himbeeren.

3. Würde es sich um einen jungen Erwachsenen handeln, der mir "Vom gar nicht erst Entstehen der Dinge" erzählt (Prokrastination?), dann würde ich wohl über das Sterben der Möglichkeiten nachdenken. Jede Entscheidung bedeutet eintausend Dinge, gegen die ich mich entschieden habe, bedeutet Einengung, bedeutet, das Leben der Eltern zu leben, spießig, alt, irgendwie unattraktiv. So gesehen wäre das Nichtentstehen ein versuchter Befreiungsschlag, ein Aufbäumen des Lebens. Und eben auch: nicht erwachsen werden, in allen Möglichkeiten, in aller Freiheit bleiben wollen. Eine Rückkehr in die Jugendlichkeit…

4. Oder aber es ist viel schlimmer. Eine Rückkehr in die Kindlichkeit. Kein Aufbäumen, sondern ein Aufgeben. Sollen die Großen die Geschicke der Welt lenken. Ich lese lieber einen Fantasy-Roman auf der Couch. Ich weiß von Flüchtenden, von Kriegen, vom Klimawandel, von all den Fortbildungen und Möglichkeiten zur Initiative. Sie machen mir Angst.

Die Liste ließe sich fortsetzen: 

Himbeerstrauchgestelle.
Politische Tätigkeit.
Blogartikel.
Ein Literaturkreis.
Mehr Sport.
Kuchenrezeptsammlungen.
Fachartikel.


Leider ist sie vom Nichtentstehen betroffen. Wie so vieles. Was verständlich ist. Und schade.



Jan-Erik Grebe,
HIP-externer Dozentenkreis,
ehem. Jhg. 2010

1 Kommentar:

  1. Schön, dass der HIP-Beitrag „ werden durfte“. So können wir alle ein wenig die Früchte der fehlend erscheinenden Zeit ernten! Hochgenuss durch Mitgenuss. Danke. Vielleicht dürfen die Fachartikel ja liegen bleiben und ein Fantasyroman entstehen?

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