Samstag, 6. Juni 2020

Martha erfindet eine neue Tresorübung







Der erste Corona-Fall in der Praxis war aufregend und unerwartet. Darüber hinaus bescherte er mir nicht nur erste Erfahrungen in telefonischer Psychotherapie, sondern erweiterte meinen mageren büchergeschulten Blick auf die Kriegsgeneration, der sich meistens auf deren Traumatisierungen und Retraumatisierungsgefährdungen bezieht. Zu oft, wie mich eine Patientin nun gelehrt hat.
Martha* war 79 Jahre alt, als Covid-19 sie erwischte, und sie kam schon seit eineinhalb Jahren zu mir. Kurz nachdem sie genesen war, nahmen wir wieder unsere Termine auf - aufgrund der besonderen Situation vorsichtig telefonisch und in erhöhter Frequenz – und wir beschlossen feierlich, dass diese ungewohnte Lebenslage es rechtfertigen sollte, vom schon länger eingeführten 14-tägigen Rhythmus eine Weile zurückzugehen auf wöchentliche Kontakte. Wenige Tage nachdem der Lockdown die Stadt und meine Praxis erreicht hatte, hatte sie mich angerufen, um mir mitzuteilen, dass sie die nächste Sitzung nicht würde wahrnehmen können. Allein dies war ungewöhnlich gewesen: Martha rief an! Und an eine abgesagte Sitzung hatte ich mich ebenfalls nicht erinnern können, seit ich sie kannte. Sie berichtete mir damals am Telefon kurzgefasst und sachlich von ihren Symptomen und ich hatte den Wunsch, eine Diagnose zwischen unser beider ungesagt bleibende Besorgnis zu schieben; ein bisschen so, als sei ich ihre Hausärztin. Wie vermessen, aber offenbar wollten wir beide diesem plötzlichen Sturm in ihrem Leben einen Namen geben. Das klingt sehr typisch für eine Influenza und untypisch für Corona, ließ ich sie wissen, und sie bestätigte, genau das habe ihr Hausarzt auch gesagt. Jede Woche, und es vergingen vier, rief sie am Tag ihrer üblichen Therapiesitzung an (so als hätten wir, wie früher, noch ein wöchentliches Setting) und gab kurz und prägnant, mit etwas zu deutlich vorgetragenem Optimismus, ein Bulletin heraus – manchmal, vermutlich aus Schwäche, nur auf dem Anrufbeantworter, manchmal direkt zu meiner üblichen Telefonzeit. Sie wollte offenbar selbst jetzt noch, mit 40 Grad Fieber, als allein lebende verwitwete Frau vollkommen auf die Hilfe anderer angewiesen, ihr Fernbleiben persönlich entschuldigen. Und sie generierte dabei einen vermeintlich noch bestehenden wöchentlichen Rhythmus. Unseren Rhythmus. Etwas Anrührendes hatten diese Anrufe. Als sei ich ihr schon lange im fernen Ausland lebender Sohn, der einmal wöchentlich ein Update erfahren solle, für alle Fälle.
Sie kämpfte fast einen Monat lang aus dem Bett heraus; zuerst mit dem Notarzt, den sie schließlich überzeugte, dass sie mit diesem Lungenabhörbefund nicht in eine Klinik gehöre und dort mit Keimen zu tun bekäme, die ihr Überleben mit der Coronadiagnose nicht wahrscheinlicher machen würden. Sie kämpfte mit extremer Kraftlosigkeit, zwei Antibiotikawechseln und anhaltendem hohem Fieber. Sie kämpfte damit, die Infektionskette zu verstehen; es war ihr unklar, wo sie sich angesteckt hatte: in einem sehr bewusst gestalteten, gut überschaubaren Lebensalltag ohne kommunikative Ausrutscher. Martha, eine sehr jung gebliebene und bis dahin vollkommen autarke Frau, kämpfte mit ihrer radikalen Abhängigkeit von der Wohnungsnachbarin, von ihrer Lateinnachhilfeschülerin, von den Mitgliedern ihres Lesezirkels und von dämlicher Astronautenkost. Sie kämpfte auf vielen Ebenen. Jedenfalls hatte ich mir das so vorgestellt.

Bei unserer ersten Post-Corona-Telefon-Sitzung erzählte sie mir, dass diese Zeit gut war. Sie sich völlig habe fallen lassen können. Sie habe während der gesamten Krankheit nie Angst gehabt. Sie sei reizend umsorgt worden. Sie glaube, ihre Angstfreiheit fuße auf ihren Kriegserfahrungen. Auf dem Nachbargrundstück ihres Elternhauses habe es damals, Anfang der 40er Jahre, im Vorgarten einen privat erbauten Luftschutzbunker gegeben. Immer wenn diese Bunker fertiggestellt waren, sei üblicherweise ein von der Stadtverwaltung autorisierter weißer Pfeil darauf gemalt worden, der anderen Menschen aus der Umgebung oder zufälligen Passanten damals signalisieren sollte, dass man hier unterkommen könne, und dass dieser Bunker den Ansprüchen genüge und als sicher gelte. Ihre ältere Schwester habe im Luftschutzbunker jedes Mal Angst gehabt. Sie selbst dagegen habe sich dort immer wohl und sicher gefühlt. Man habe nichts tun müssen, nur warten. So sei es ihr in den letzten Wochen im Bett gegangen. Sie habe nichts tun müssen, nur warten. Sie habe sich an den Bunker erinnert, beinahe wohlig. Und habe sich tage- und wochenlang, mit langsam verschwimmendem Zeitempfinden, genauso beschützt gefühlt wie damals; der Bunker sei in ihren Fieberphantasien teilweise ihr Bett gewesen. Tresortechnik invers, dachte ich. Martha hatte keine traumatischen Inhalte, sondern sich selbst dort abgelegt.

Telefonische Psychotherapie: Manchmal bedeutet sie keine Ersatztechnik, sondern innige Nähe. Man merkt auch am Telefon, wenn jemand weint. Manchmal auch, wenn er es lautlos tut. Und man merkt dann sogar, ob er aus Schmerz, Wut oder Dankbarkeit weint. Martha liefen beim Berichten über den Luftschutzbunker die Tränen. Sie sei so dankbar für diesen Bunker mit dem weißen Pfeil. Wir entdeckten auch noch einen anderen Affekt, den sie zunächst für sich behielt, vielleicht, um dessen Formulierung mir zu überlassen: Stolz war sie auf diese aus der Not geborene Kreation, wie sie sie nannte. Eine wertvolle Kriegskindressource. Und dann, kurz vorm Gesprächsende, wechselte sie – nein, eigentlich doch nicht - abrupt das Thema: Sie fühle sich übrigens langsam in der Lage, tatsächlich ins Seniorenheim zu gehen. Ob ich noch wisse, wann sie das avisiert habe? Es sei komisch, auch etwas peinlich, sie habe das Datum vergessen, sie vergesse doch nie etwas, aber sie sei nun unsicher geworden, ob sie diese Aktion schon für Ende diesen Jahres geplant hatte. Sie wisse aber noch, ich hätte es einst, als wichtigen Meilenstein unserer Gespräche, vor ihren Augen aufgeschrieben. Mai Zweitausendeinundzwanzig, sagte ich, etwas zu leise für ein Telefonsetting. Sie antwortete trotzdem. Ach, das ist gut. Denn jetzt wäre es mir doch noch ein bisschen zu früh erschienen.

*Name und persönliche Angaben geändert



Doris Normann
HIP - Dozentenkreis

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