Donnerstag, 28. Mai 2020

Zum Glück habe ich noch meine Notizen aus dem Psychologie-Studium







In letzter Zeit frage ich mich, auch durch meine Arbeit in einer Entwöhnungsstation bedingt, mit welcher Motivation kommen eigentlich unsere Patienten?
Auf einer Entwöhnungsstation sollte diese Frage eigentlich nicht existieren: Idealerweise nehmen substanzabhängige Personen, sobald sie Probleme feststellen, zu einer Suchtberatungsstelle Kontakt auf, lassen sich beraten und gewinnen Einsicht darein, dass ihr Konsum ein Problem ist, sprich, dieser reduziert werden oder aufhören soll. Anschließend geht es weiter auf eine Entzugsstation, auf der die Patienten darüber aufgeklärt werden sollen, dass es mit der Abstinenz meist nicht so einfach ist und diese fast immer mehr als drei Wochen qualifizierten Entzug benötigt. Hier sollte Ihnen vermittelt werden, dass man anschließend noch eine Selbsthilfegruppe besuchen oder, wenn die berufliche Leistungsfähigkeit eingeschränkt ist bzw. die Sucht mehrere Lebensbereiche umfasst, vorher noch eine Entwöhnung stattfinden sollte. Im Idealfall kommen in eine Entwöhnungsbehandlung also Patienten, die selbstständig abstinent sein wollen, aufgeklärt sind und ihre Leben verändern möchten. 
Wie man aber schon beim Überfliegen merkt, stehen im Text ganz schön viele „sollte“, woran deutlich wird, dass die Realität dem Ideal nicht gerecht wird.
Ich stelle fest, dass unterschiedlich motivierte Patienten zur Behandlung kommen. Natürlich gibt es auch bei uns die Selbstmotivierten, aber auch die Geschickten; diejenigen, welche eine Entwöhnung als Mittel zum Zweck nutzen, zum Beispiel, um einer Strafe zu entgehen; diejenigen, die durch die Entwöhnung etwas retten wollen, zum Beispiel die Partnerschaft. Es gibt, wie vermutlich in anderen Therapiebereichen auch, alle möglichen Hintergründe von Motiven, zu einer Entwöhnungsbehandlung zu kommen. 
Die Frage, die ich mich nun beschäftigt, ist, ob es nicht Gemeinsamkeiten bei diesen vielen Unterschieden gibt? Nun schaue ich manchmal in meine alten Aufzeichnungen des Psychologie-Studiums hinein und da fiel mir auf, dass ich mal in Allgemeiner Psychologie gelernt hatte, dass es eigentlich nur zwei Arten von Motivation gibt: Annäherungsmotivation, der Wunsch, einen Zustand zu erreichen, und Vermeidungsmotivation, der Wunsch, von einem Zustand weg zu kommen. 
Während des Lesens, erinnerte ich mich an viele Aussagen von Patienten: „Ich trinke, damit meine Angst verschwindet.“ „Der Alkohol macht mich lockerer, dann kann ich besser mit Leuten interagieren.“ „Ich trinke, weil ich dann mehr Spaß habe.“ „Durch den Alkohol trinke ich den Frust herunter.“ Diese lassen sich alle, meist ganz problemlos, in diese zwei Motivationen einteilen. Ähnlich sieht es mit den Gesprächen in der Therapie aus. 
Oft höre ich in Einzelgesprächen Aussagen, die sich eher der Vermeidungsmotivation zuordnen lassen: „Wenn es mir schlecht geht, dann lenke ich mich eben ab.“ „Dann gehe ich halt nicht mehr in die Kneipe.“ „Mir geht es gut, hier auf Station habe ich keinen Suchtdruck/Suchtverlangen.“ Das Dilemma hieran ist, dass Vermeidungsmotivation nur existiert, solange der Zustand, den man vermeiden will, wahrzunehmen ist. Übersetzt heißt das, dass es für Patienten, die vor allem auf Vermeidungsmotivation setzen, in einer Entwöhnungsstation weit weg von ihren Alltagsproblemen keine Vermeidungsmotivation und damit auch keine Behandlungsmotivation gibt. Das sind in der Regel die zähesten Therapiesitzungen, weil die Patienten, die Ängste abwehren oder verleugnen, dadurch auch keine Bereitschaft haben, etwas zu verändern. 
Haben die Patienten eine Annäherungsmotivation, entwickeln sich die Gespräche oft in eine andere Richtung: „Ich muss etwas in meinem Leben verändern, ich will nicht ständig in solche Belastungen geraten.“ Dadurch finden auch bei nicht akuten Belastungen, Gespräche statt, in denen die Patienten ihre Ängste reflektieren und überlegen, warum immer wieder diese Ängste, bzw. Probleme auftauchen.  
Ideal wäre es also, dass es in der Therapie gelingt, eine Annäherungsmotivation zu entwickeln. Aber wie gelingt das nun?
Ich erinnere mich an einen Fall, bei dem das sehr deutlich wurde: Am Anfang der Entwöhnung beschrieb der Patient immer wieder, dass er sich kontrollieren könne und alles in Ordnung sei. Erst als leider einige Mitpatienten rückfällig wurden, bekam der Patient Angst und merkte, wie leicht bei ihm ein Verlangen nach Alkohol entstand. Als er schließlich am Wochenende rückfällig wurde, war er anschließend wie ausgewechselt: Er erkannte, dass er etwas in seinem Leben verändern musste, weil er diese Angstzustände nicht mehr haben wollte, da er sich nicht in der Lage sah, sich gegen sie ohne Alkohol zu wehren; er konnte sich eingestehen, dass er seine Ängste verleugnete. Oder dynamisch formuliert: Seine Abwehr gegen die Wahrnehmung der Ängste schwand, weil der problemorientierte Leidensdruck spürbar wurde und er ihn dank der therapeutischen Situation nun halten konnte und nicht mehr abwehren musste. Anschließend brachte der Patient in der Therapie eigene Themen ein und fing an, sich mit Möglichkeiten wie Selbsthilfegruppen und Wohnungs-, bzw. Berufswechsel auseinander zu setzen, um seine Belastungen zu reduzieren. 
Hier wurde mir deutlich, dass das Zulassen und Halten von Ängsten in der Therapie es dem Patienten ermöglicht hat, seine Verleugnung aufzugeben und er sich von einer Vermeidungs- zu einer Annäherungsmotivation bewegen konnte. 
Im Nachhinein werden mir auch Fehler meinerseits deutlich, durch die ich die Vermeidungsmotivation mit aufrecht gehalten habe: Ich fragte oft: „Was machen Sie dann, wenn es ein Problem gibt?“ Damit habe ich über Probleme gesprochen, die abgewehrt werden, und fast immer das reaktante „Dann lenke ich mich ab!“ erhalten. Mittlerweile erfahre ich mehr Erfolg mit Sätzen wie: „Wie können Sie diesen Zustand ohne Suchtdruck beibehalten?“ Meist ist die Reaktion eine Verblüffung, manchmal auch Neugierde, was ich denn meine. Daraus ergibt sich hin und wieder ein zwangloses Gespräch über Ideen, wie man diesen Zustand wahren kann. Hierdurch gelingt es den Patienten oft, meist auch zum ersten Mal, zu erkennen, dass es Möglichkeiten gibt, diesen Zustand zu wahren oder zu verbessern. Gerade Patienten auf niedrigen Strukturniveau können oft nicht glauben, dass Zustände beständig sein können. Manchmal kommt es auch vor, dass mir Patienten gestehen, dass sie sich eigentlich freuen, wenn sie rückfällig werden, da sie sich selbst als „Fußabtreter“ sehen und es ihnen eigentlich schlecht gehen soll, und damit sind wir schon wieder in einem sehr therapeutischen Gespräch über die Introjekte des Patienten.
Durch diese Erfahrungen habe ich langsam angefangen, mich anfangs immer erst einmal zu fragen, welche Art von Motivation hat der Patient und wieso? Denn mir wurde auch an den Rückfälligkeiten der Patienten, die man leider mitbekommt, klar, eine langfristige Veränderung ist wahrscheinlicher, wenn die Patienten merken, dass er oder sie etwas erreichen kann und nicht immer gezwungen ist, etwas zu vermeiden.



Ivo Rollmann
HIP Ausbildungsteilnehmer Jhg. 2018

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