Sonntag, 23. Januar 2022

Verständnisvolle Zwillingsschwestern (Über Sympathie und Empathie)

Beim Nachdenken über die psychotherapeutische Tätigkeit ahnt man eine gewisse Tragik des Berufsstandes. Wissen Therapeuten zu wenig, wie es sich anfühlt, mit der affektiven Befindlichkeit des Patienten in Resonanz zu treten, dann verstehen sie zu wenig von ihm und werden dessen persönliche Problematik nur bedingt nachvollziehen, unter Umständen nicht einmal korrekt diagnostizieren können. Sie nehmen zu wenig teil. Wissen Therapeuten stattdessen zu viel davon, weil es ihnen via Identifizierung mit den Nöten des Patienten selber so ergeht wie diesem, dann sind sie und ihre Arbeit über kurz oder lang gefährdet; denn das ständige Überschreiten und Rückgängigmachen der Ich-Du-Grenzen kann energetische Defizite und inhaltliche Unschärfen hinterlassen. Sie beobachten zu wenig. Eines ist dennoch klar: Ohne das „Wissen“ vom Seelenleben, einer theory of mind, sind weder eine theoretische Klärung seelischer Krankheitszustände noch eine hinreichende Fähigkeit im Umgang mit seelisch Kranken zu erwarten.



Doch was ist mit „Wissen“ eigentlich gemeint? Bei der Erörterung der sog. fremdseelischen Erkenntnis, beim Versuch also, das Verstehen zu verstehen, bietet sich ein Blick über den Tellerrand der akademischen Psychologie und Psychoanalyse an sowohl zur Neurobiologie als auch zur Philosophie. Beide Disziplinen zeigen, dass die alltagssprachlich oft konfundierten Begriffe „Mitgefühl“ und „Einfühlung“ unterschiedliche Formen der Erkenntnis meinen. In der Antike wurde diese Differenzierung vorgenommen als „Sympathie“ und „Empathie“.

Einer Arbeitsgruppe der Universität Parma war es vor Jahren gelungen, den emotionalen Resonanzboden für körperliche oder körpernah codierte affektive Vorgänge unseres Gegenübers zu erklären. Man fand in Form der sogenannten mirror neurons ein stoffliches, den Regeln neuronaler Erregung unterworfenes System der Wahrnehmung, das dann aktiviert wird, wenn der Körper einer anderen Person, sei es durch Motorik, Mimik oder Schmerzanzeichen, Signale aussendet, die wir mit unseren fünf Sinnen aufnehmen können. Ein sechster oder gar siebter Sinn sind nicht vonnöten – die Spiegelneuronen funktionieren mittels elektrischer Impulse genauso wie andere Nervenzellen, die wir zum Denken, Steak braten oder Inlineskaten nutzen. Das Ende vom Lied dieser Fähigkeiten ist, dass wir uns unwillkürlich ähnlich (an-)fühlen wie der andere. Die Betonung liegt auf „unwillkürlich“, denn die Spiegelneuronen werden ohne kognitive Anstrengungen oder das, was man als Reflexion bezeichnen würde, tätig.

Dieser perzeptive Dieselmotor läuft und läuft, ob du das willst oder nicht. Allerdings muss man mit der betreffenden Person körperlich, wenn schon nicht im gleichen Raum, dann doch zumindest auf andere körpernahe Weise, also etwa optisch oder akustisch, verbunden sein, denn ohne aufnehmende Sinne besteht kein ausreichender Informationszufluß. Als Internettherapeut kannst du also nicht auf deine Spiegelneuronen zählen. Beim Telefonieren könnte es dagegen unter Umständen klappen. Die Wissenschaft streitet noch darüber, ob und wenn ja, in welchem Umfang man seine eigenen mirror neurons trainieren kann. Ich hoffe eher, man kann sie nicht trainieren. Übertrainiertheit würde einen vermutlich rasch zum Wahnsinn treiben. Da innerhalb von wenigen Hundert Millisekunden ohne geistige Reflexion entstehend, würden sie sich schwer kontrollieren und noch schwerer einordnen lassen: Sympathisantentum ohne Ende. Die mirror neurons bringen uns in einen Zustand des Mitfühlens (griech. συμπάθεια). Sie sind eine der Grundlagen für jenes unsichtbare jahrtausendealte Netz, das sich zwischen uns Menschen spannt und uns helfen, beruhigen, trösten und mitleiden lässt, ohne dass Worte gesprochen, psychologische Abhandlungen gelesen oder Grübelschleifen durchgestanden werden müssten. Neben schmerzvollen Gemütsregungen bescheren uns Spiegelneuronen aus Gründen kosmischer Gerechtigkeit auch positive Affekte: Wäre meine Freundin außer sich vor Vorfreude auf ihre eigene Hochzeit, wäre ich es vielleicht auch, ich fieberte mit, als wär´ ich es, die vor den Traualtar mit dem Traummann träte, erlebte rosarote Ausnahmezeiten - und das sogar dann, wenn ich persönlich den zukünftigen Bräutigam für eine ziemliche Niete hielte. So funktionieren die Spiegelneuronen: Fix sind sie, aber ein bisschen dumm sind sie auch, indem sie die kognitiven Möglichkeiten ihres Besitzers rechts überholen.

Neben der Neurobiologie lässt sich, wie ich finde, glücklicherweise, eine weitere Erkenntnisdisziplin für zwischenmenschliches Verstehen zu Rate ziehen. Die Philosophin Edith Stein, eine Schülerin Edmund Husserls, des Begründers der Phänomenologie, hat dies in ihrer Doktorarbeit erläutert. Nehmen wir nochmal als Beispiel die zitierte Hochzeit der Freundin: Ich könnte mich, die meint zu wissen, dass der Bräutigam die falsche Wahl ist, dennoch freuen: darüber, dass sich meine Freundin so freut. Das wäre etwas völlig anderes als die affektive Ansteckung, die ich durch deren Vorfreude erführe – es wäre eine Freude, die ebenso stark sein könnte, die aber nicht reflexartigem (gespiegeltem) Mitfühlen entspränge, sondern der Einfühlung (griech. ἐμπάθεια): dem Sichvorstellen, wie es dem anderen gerade geht. Es geht einem aber deswegen nicht selbst so: eine affektbezogene theory of mind entwickeln. Die Einfühlung als fremdseelische Erfahrung setzt ein höchst subjektives Ich voraus, sie verwirft oder vergisst es nicht, sondern setzt es als Generator reflexiv erfassten Bewusstseins quasi an die Stelle der daraus folgenden Vergegenwärtigung des Fremden, der Appräsentation. Das fremde Ich und sein Bewusstsein werden als „mitdaseiend“ (E. Stein*) vergegenwärtigt und dieser zwischen Du und Ich abgewogene, ohne Reflexion nicht mögliche Umstand sorgt dafür, dass nicht das Erleben des anderen, wie ich es mir vorstelle, zu meinem eigenen Erleben mutiert. Tückisch bleibt dieser Akt der Einfühlung dennoch; manchmal könnte man nämlich falsch liegen, von sich auf den anderen geschlossen und somit dessen Erleben verzerrt vergegenwärtigt haben. Dann fänden Analogieschlüsse statt nahe dem Motto: Ach, muss meine Freundin nervös sein, bestimmt hat sie Angst vor der Hochzeit mit dieser Niete!

Sowohl Mitfühlen als auch Einfühlen sind also potentiell fehlerbehaftet: Im einen Falle überschreibt sich das eigene Erleben. Es wird überwältigt vom fremden Zustand und als vermeintlich eigener Zustand wahrgenommen, wobei wenig Möglichkeiten bestehen, den Vorgang der Ansteckung in statu nascendi zu erfassen und zu korrigieren, sich also „abzugrenzen“. Im anderen, zweiten Falle könnte das vermeintlich fremde Erleben nicht ausreichend von der subjektiven Erfahrungswelt getrennt werden, so dass zum Erfahrenen des Gegenübers ein entscheidender Näheschritt nicht vollzogen und dies trotz intensiven Bemühens und Nachdenkens – möglicherweise auch trotz Supervision – nicht immer bemerkt würde.

In diesem Spagat sich bewegen: auch das heißt Therapeut*in sein. Ich finde, psychodynamisch geschulte Therapeuten haben einen großen Vorteil, den ihnen der gewählte theoretische Schwerpunkt eröffnet: Introspektion und Selbstreflexion sind Kernbestandteile der Methode und der praktischen Ausbildung. Es bleibt zu hoffen, dass dieser Vorteil trotz des gegenwärtigen, auf Griffigkeit und Allgemeingültigkeit des Erlernten getrimmten Zeitgeists dennoch ausreichend genutzt wird: den Spiegelneuronen, die schnell und zuverlässig, aber auch ein bisschen einfältig und Burnout gefährdend daherkommen, das Husserl´sche Appräsentieren an die Seite zu stellen. Das kann man tatsächlich üben. Muss man wohl auch, denn es ist eine ziemlich komplizierte Sache.


*  Stein, E., Zum Problem der Einfühlung, Edith-Stein-Gesamtausgabe Bd. 5, Freiburg 2008.  


D. Normann

HIP Dozentenkreis

FÄ für Psychotherapeutische Medizin

Heidelberg


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen