Dienstag, 11. April 2017

«Flachlandpsychologie» oder Der Mangel an Menschen im unterseeischen Raum




Die Fregatte Braunschweig 
durchkämmt das Meer



Neulich tauschte ich mich mit einer Kollegin aus, was so lang angenehm war, bis wir auf die Ausbildung von jungen Psychotherapeuten zu sprechen kamen.
«Mir geht die Ausbildung von Tiefenpsychologen nicht genügend in die Tiefe», sagte sie.
Was genau ist diese Tiefe? Und müsste ich mich nicht besser Höhenpsychologe (nicht im Sinne der FRANKL' schen Logotherapie zu verstehen) oder noch besser Flachlandpsychologe nennen? Besonders letzteres gefällt mir ganz gut. Es erinnert mich an den weiten Himmel und das Fehlen größerer Berge an der Nordsee. Tatsächlich reicht mir häufig der Spaziergang am Strand, gern bei rauerem Wetter, bei dem einem der Wind um die Ohren peitscht und man nachher überall Sandkörner findet. Der Blick auf die Wellen. Der Geruch von Salz. Und ab und an begegnet man einem anderen Spazierenden, vielleicht auch ein paar Kindern mit Friesennerz und Gummistiefeln, die in den Tangballen nach Muscheln und anderen Schätzen suchen. Tatsächlich frage ich mich, warum manche Therapeuten immer versuchen, tiefer zu graben oder eben: zu tauchen. Liegen Schätze am Meeresgrund? Vermutlich. Und darunter? Noch mehr Schätze? Ist der Mensch eine Nuss mit unergründlicher dicker Schale und das Beste liegt im Kern? Oder sind wir eher Zwiebeln und haben Schale um Schale um Schale und darinnen: Nichts? Wenn ich meinen jugendlichen Patienten dazu bringe zu erkennen, dass er Kastrationsangst hat – was scheinbar tiefer liegen und sehr wertvoll sein muss, da so viel danach gegraben wird (im Nusskern liegend, wenn Sie so wollen) – bringt ihm das mehr, als wenn er endlich aussprechen kann, dass er Angst vor den Reaktionen seiner Eltern hat, wenn er versagt? Letzteres würde ich als «an der Oberfläche liegend» verorten. Ich brauche dafür kaum biographische Arbeit und relativ wenig Rückgriff auf das Früheste.
Sicher: Die Tiefe hat ihren Reiz. Das fast mystische, religiöse Unbekannte. Das irgendwie Dämonische und Heilige, das in uns steckt. Das, was Therapeuten unserer Spielart seit Generationen versuchen zu ergründen und zu deuten. Schönes Wort übrigens, das Deuten. Das Erkennen und Konstruieren von Bedeutung. Vom Willen des Göttlichen zum Beispiel. Und doch: Ich verspüre wenig Lust, einen Taucheranzug anzuziehen und tief im Meer zu sein. Ich denke, dort unten sind wenige Menschen. Irgendwo noch die Titanic, deren Wrack sich langsam auflöst.
Unsere Patienten sollen alles symbolisieren können. Das, was unten ist, zuoberst bringen, es in Worte fassen und wiedergeben können. Wir wollen ihnen helfen zu verstehen, was sie im tiefsten Inneren bewegt. Was ist aber, wenn diese Form von Tiefe nur eine Illusion ist? Oder wenn beispielsweise die «Boston Change Process Study Group» mit ihren Annahmen richtig liegt und es basalste Einheiten von Interaktion gibt, die unser seelisches Grundgerüst bilden und die nicht symbolisierbar sind (nonverbal ≠ präverbal): Die Umarmung des Vaters, der Blick der Mutter, das wohlige Gefühl – kurz der «Bereich des Beziehungsgedächtnisses, der bei jeder neuen relationalen Begegnung einer dynamischen Umorganisation unterliegt.»* Was wäre, wenn wir Zwiebeln wären?
Am Ende habe ich vielleicht zu wenig Sinn für die Tiefe, um sie zu sehen.  Wie sollte ich auch, als Flachlandpsychologe. Ich bin weder vom Heiligen noch vom Dämonischen wirklich überzeugt. Das Mystische, besonders in der Psychotherapie, ist mir zutiefst suspekt – ich habe stets die Vermutung, dass es Menschen eher entmündigt.
Albert Camus legt in «Die Pest» dem Arzt folgenden Satz in den Mund: «... ich habe keinen Sinn für Heldentum und Heiligkeit. Was mich interessiert, ist, ein Mensch zu sein.» In diesem Sinn bleibe ich gern dort, wo Menschen sind. Ich denke, tief im Meer treffe ich niemanden.






Jan-Erik Grebe
HIP - externer Dozentenkreis, ehem. Jhg. 2010

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen