Montag, 22. Mai 2017

Watching you


geduldetes  Therapieraumaccessoire


Erzählt mir doch neulich ein Ausbildungsteilnehmer eine Geschichte, von der ich mich immer noch nicht erholt habe. Die Story ist wirklich ein Kracher!
Es ging darum, dass in der 29. Sitzung einer auf Video aufgenommenen Therapie gleich zu Beginn Kamera und Mikro nicht funktionierten und ausgeschaltet bleiben mussten.
Der Patient habe das mitbekommen, während er sich aus seiner Daunenjacke schälte, und in der Sitzung habe er dann unerwartet eine extreme Sache aus seinem Leben berichtet, die als umwälzend für die ganze weitere Therapie einzuschätzen sei und endlich ein besseres Verständnis ermögliche. Der Kollege fragte sich, wie die Therapie wohl weiter gegangen wäre, wenn die Kamera nicht ausgefallen wäre, und dass es doch zu denken gäbe, was die Daumenschrauben der Psychotherapieforschung da fast 30 Sitzungen lang unterdrückt hätten.


In den folgenden Tagen grübelte ich herum. Vorwärts und rückwärts. Ich glaube, so muss es den Statistikern gehen, die bei Versicherungsunternehmen arbeiten: ich ertappte mich beim Berechnen von Wahrscheinlichkeiten, in diesem Falle von Wahrscheinlichkeiten des Berichtens schambesetzter Lebensereignisse. Mit Video, ohne Video. Mit Video plus Kamera, ohne Kamera. Mit Therapeut, ohne Therapeut, aber dafür wieder mit Kamera. Es wurde immer komplizierter. Schließlich behalf ich mir mit einem alten Therapeutentrick und ordnete das ganze energisch als konkordante Gegenübertragung ein. Daraufhin ging es mir schon etwas besser. Vermutlich hatte der Patient also auch gegrübelt. Immer wieder. Ob er´s sagen soll oder nicht, und wenn, wann, und wie er sein bisheriges Verschweigen dem Therapeuten gegenüber rechtfertigen könne. Mir fiel ein erfolgreich in den Kinos gelaufener Actionthriller ein („Lola rennt“), in welchem in drei verschiedenen, durch kleine Zufallsereignisse erzeugten Varianten durchexerziert wird, wie die initiale Handlung weitergeht. Also, ich gehe mal davon aus, dass der Ausfall der Kamera in der 29. Sitzung ein Zufallsereignis war. Alles andere, z.B. ein verdecktes Forschungsdesign zur prozess-dynamischen Wirkung von Kameraausfällen, wäre wirklich hot. Was zunächst noch eindeutig kausal erschienen war (dass der Patient in der 29. Sitzung rausrückte, weil die Kamera ausgeschaltet war), geriet mittlerweile in meinen Gedanken zu einer viel komplexeren Angelegenheit. Was, wenn der Kameraausfall nur ein Anlass war – und gar nicht die Ursache? Wenn also der Patient dank geduldiger Vorarbeit seines Therapeuten um diese Zeit herum reif war für´s Geständnis und dazu vor sich selbst und vor ihm nur noch einer schlüssigen Begründung bedurft hatte, warum er es erst heute erzählte? Was, wenn er es in der 29. Sitzung auch mit Kamera erzählt hätte? Weil in dieser Sitzung der Therapeut sich, halb aus Ungeduld und halb zwecks gezielter Konfrontation, vorgewagt hätte mit einer mutigen Intervention? Oder ohne Kamera, aber nicht, weil es den Patienten befreit hätte, sondern weil der Therapeut gedacht hätte, „heute ist die Kamera aus, da gehe ich mal etwas hemdsärmeliger vor“? Oder weil der Patient kurz vorher seinen Terminkalender durchgeblättert und festgestellt hätte, „Mist, bald sind 30 Sitzungen rum und ich hab´s immer noch nicht gesagt“! Und wie wäre es gewesen, wenn die Ehefrau des Patienten an jenem Morgen beim Frühstück gefragt hätte, „hast Du´s eigentlich endlich deinem Psychoheini erzählt?“ Fragen über Fragen. Könnte es sein, dass die entscheidende Variable gar nicht die Überwachung durch diesen ätzenden big brother in der Therapieraumecke war, sondern die wachsende Vertrauensbeziehung zum Therapeuten? 

Vollends in kognitive Kapriolen geriet ich, als ich mir vorstellte, dass ohne Videoüberwachung und folglich ohne plötzliches Technikausfallsdrama der Patient vielleicht noch später als in der 29. Sitzung ausgepackt hätte. Schließlich ist ja die Kamera so eine Art externalisiertes Überich zum Anfassen. Da kann man schon mal schwach werden, wenn es plötzlich und unerwartet wegbricht. So rasch kriegt man seine Projektionen gar nicht mehr zurückgepfiffen, und – zack ! - ist´s raus, das giftige biographische Apfelstückchen. So ließ mich die innerkopfige Debatte nicht mehr los. Was, wenn auch der Therapeut in seine Beurteilung der vermeintlichen Kausalkette seine Versagens- und Schamgefühle mit hineingetragen hätte: „wer weiß, was die da oben mit unser beider Äußerungen so alles anstellen?“ In einer Zeit, in der, sagen wir´s milde, die Auszubildenden ja nicht direkt aufgefordert werden, nach vorn an die Tafel zu kommen und aufzuschreiben, was sie wissen, und in der kaum noch mit dem Schlagstöckchen gearbeitet wird, muss ja erst recht irgendwo das Überich des Ausbildungsteilnehmers untergebracht werden. Warum nicht in den Kameras. Die schweigen ja sogar, im Gegensatz zu den immer mehr aussterbenden fiesen Prüfern und paukerhaften Supervisoren, die einem wenigstens offen die Meinung geigen. Stumme Kameras hingegen setzen noch mehr Verunsicherung in Gang. Wenn sie reden könnten, also zum Beispiel am Ende jeder 4. Sitzung einen zufallsgenerierten Kommentar abgäben, so wie diese batteriebetriebenen leicht übergewichtigen Spielzeugpuppen, die auf kurzen Druck in ihre Nabelgegend einen einfachen Satz ausspucken, dann wüsste man wenigstens, wo man steht.

Bei soviel Qualthematik lechzt man nach zuverlässigen positiven Assoziationen zu Kameras: zum Beispiel in Fußballstadien, die Zuschauer freuen sich über eine zweisekündige Einblendung ihres würstchenkauenden Konterfeis auf der Stadionleinwand jedes Mal wie Kinder. So versuche ich seit geschlagenen acht nutzlosen Jahren im Block B Nordkurve, mal von einer Sky-Kamera eingefangen und total attraktiv live im Fernsehen ausgestrahlt zu werden. Wahrscheinlich sollte ich mir mal ein gegen den Strom gestyltes Outfit zulegen. Oder besonders schrille Lieder singen. Bei meinem bisherigen Pech würde es mich aber nicht wundern, wenn dann gerade eine technische Störung eintritt und wieder schaut keiner hin. 

Doris Normann
HIP - externer Dozentenkreis

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