Dienstag, 21. April 2020

"...hoffentlich können wir morgen noch reden..."


Zeichnung: Dank an Frederick, 3 Jahre





„Es will uns scheinen,
    als hätte noch niemals ein Ereignis
 so viel kostbares Gemeingut
der Menschheit zerstört,
 so viele der klarsten Intelligenzen verwirrt, 
so gründlich das Hohe erniedrigt.“
 S. Freud, „Zeitgemäßes über Krieg und Tod“ (1915)


Vor ein paar Jahren, als ich die Universität beendete, stellte ich in meiner Diplomarbeit paranoide Wahnvorstellungen als Werkzeuge dar, welche eine psychische Struktur zu stabilisieren versuchen. Eine Struktur, die sich oft aufgrund eines ungewöhnlichen und ausladenden Ereignisses abbaut, zerbricht, oder gar ganz verschwindet. Die Wahnvorstellungen wären in diesen Fällen also so etwas wie Klebstoff,
und stellten allenfalls einen unvollständigen Versuch dar, diese zuvor zerbrochene Struktur zu reparieren. Einen Versuch, der wiederholt und schmerzt. 

In der jetzigen Zeit, einige Jahre später, erlebt die Welt ein bis jetzt unbekanntes, neuartiges und bedrohliches Ereignis. Viele Strukturen zerbrechen und Sachen, die als selbstverständlich angesehen wurden, sind plötzlich nicht mehr da, existieren nicht mehr, oder sind unsicher oder unbekannt geworden. Viele psychische Strukturen werden schwächer, werden verletzt, oder zerbrechen… 


Gestern sagte mir Heike Müller1: „Ich glaube nicht mehr, dass es Leben außerhalb des Krankenhauses gibt mein Mann und meine Kinder sind bereits tot das Corona-Virus existiert nicht alles ist eine Einbildung von Menschen die unsere Wohnungen klauen wollen ich fühle mich hier wie eine Laborrate ich habe Angst zu sterben ich werde die Polizei anrufen ich fühle meine Beine und meine Arme nicht mehr ich glaube ich habe Corona-Virus für diese Krankheit gibt es keine Heilung hoffentlich können wir morgen noch reden wenn ich überlebe…“ Es gab weder Punkte, Kommas, Bedeutungen noch Grenzen. Die Welt ist gefährlich geworden und die Struktur, welche sie vorher aufrecht hielt, ist zerbrochen. An ihrer Stelle haben sich Wahnvorstellungen eingestellt, welche, trotz ihrer Schrecklichkeit, eine geringere Gefahr als die Realität darstellen, auch weil ihre Wahnvorstellungen ihr gehören.  


Lucia Mayer1 sagt: „Ich kann nicht schlafen, ich habe jeden Tag Panikattacken.“ Sie spüre, wie ihr Herz mehrmals am Tag stehen bleibt. Sie verzweifle, sie könne drinnen nicht mehr atmen. Draußen fühle sie sich von zu vielen Menschen umgeben und trotz zwei Meter Abstand empfinde sie es zu eng und bekomme Panikattacken. Diese Enge bei gleichzeitigem Abstand ist für ihre psychische Struktur zu paradox. Dies verdeutlicht, wie zurzeit die Welt von Angst verwaltet wird, unbekannt und sehr gefährlich geworden ist, und dass jeder dies weiß, erlebt, und nachbildet.  


Max Haller1 verlasse sein Bett nicht mehr, er habe seinen Job verloren, er sei allein. Zuerst habe er noch Nachrichten gehört und fühle sich noch ab und zu hungrig. Auch das sei jetzt weg, verschwunden, sowie seine Fähigkeit zu fühlen, er habe keine Kraft mehr, er sei leer. Die Welt ergebe keinen Sinn mehr. 


Aber die Solidarität, die ist gewachsen. Die Menschen denken an andere, der zeitgenössische Egoismus hat seine Stärke verloren. Jetzt erkennen wir, dass wir eine Familie, Freunde, und Nachbarn haben, andere sind wieder „erschienen“ und mit ihnen unsere Empathie, welche die Grundlage des Wiederaufbaus der Welt bilden wird. 


Es kann in den Medien gelesen werden und viele Leute wiederholen die Aussage: „Wir befinden uns im Krieg.“ Dieser Ausnahmezustand hat Konsequenzen in allen Aspekten des Lebens, auch in einigen positiven, aber jetzt und noch für einige Zeit, müssen wir Vieles wiederaufbauen. Ein Aspekt, der wiederaufgebaut werden muss, ist die psychische Stabilität. Wir Psychologen und Psychotherapeuten haben viel Arbeit vor uns. Das Ausmaß der psychischen Kosten, die viele Menschen, Familien und Nationen in dieser Krise „bezahlen“ müssen, ist durchaus vergleichbar mit den Todesfolgen durch Covid-19 oder den wirtschaftlichen Verlusten. 


Wir müssen bereit sein, viele schmerzhafte Versuche zu hören, eine noch schmerzhaftere Realität zu bekämpfen. 


Aber, was werden wir hören? Wir werden Schmerzen, Verluste, Ängste, Trauer und vor allem Fragen hören, die wir nicht beantworten können und für die es noch keine Antwort gibt. Uns werden neue und wiedererlebte Traumata, Einsamkeiten, sowie große und tiefe Traurigkeiten begegnen. Und das Zuhören wird schwierig sein, da wir selbst auch in diese Krise verwickelt sind und auch Ängste und Unsicherheiten, vielleicht sogar Verluste erleben werden. Wir sind auch ein Teil dieser ungeordneten Welt. 


Wir werden Menschen vor uns haben, die gebrochen sind. Und obwohl wir in einer Welt leben, die uns selber unbekannt ist, sollten wir versuchen zu halten, wiederaufzubauen, und einzudämmen. 




     Name geändert

Zeichnung: Dank an Clara, 6 Jahre




Verónica Rodríguez
Klinische Psychologin und Psychotherapeutin
ehem. Jhg 2014 HIP

2 Kommentare:

  1. Liebe Kollegin,
    Danke. Ihre klugen Worte machen Sinn -ein so dringend benötigter Grund für unsere Arbeit.

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  2. Vielen Dank für den netten Kommentar, hoffentlich vertrauen uns viele Menschen ihre Geschichten, Schmerzen und Wiederholungen an.
    Herzliche Grüße,
    Verónica Rodríguez

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