Freitag, 19. Oktober 2018

Bergsteigen lernen


"Von sich abseh´n lernen ist nötig, um viel zu sehn –
diese Härte tut jedem Berge-Steigenden Not" *


Das sogenannte Abstinenzgebot verlangt vom Psychotherapeuten, dass er sich während seiner Arbeit weder offen noch „undercover“ eigene Bedürfnisse erfüllt; nun werden die meisten in anderen Metiers arbeitenden Menschen an dieser Stelle anmerken, die Therapeuten sollten nicht soviel Wind darum machen, denn es sei wenig wahrscheinlich, dass ein Postbediensteter hinterm Schalter oder ein chirurgischer Chefarzt, der seit fünfeinhalb Stunden übermüdet in einer alkoholkranken Leber herumwurschtelt, sich arbeitend persönliche Bedürfnisse erfüllten. Aber so einfach ist die Lage nicht.
Möglicherweise ist der Chefarzt zufällig ein Mensch, der gerne Macht hat und diese in sterilisierte Skalpelle und blutspritzende akkurate Schnitte kanalisiert. Und der Postbedienstete hat vielleicht früher, als kleiner Schuljunge, akribisch Briefmarken gesammelt und schwelgt noch als Erwachsener im Zählen und Zusammenfassen aller erdenklichen Quittungen und Paketmarken. Es verleiht ihm innere Ruhe. Beide werden ihre Sache gut, eventuell sogar ein Quäntchen besser machen. Denn sie bedienen sich bei ihrer bezahlten Tätigkeit einer Vorliebe, die sie schon früh in ihrem Leben entwickelten. Ich hatte mal einen Zahnarzt, zu dem ich jahrelang ging. Einmal sagte er zu mir: „Ach, ich werde so oft gefragt: Immer wieder anderen Leuten in den Mund gucken – ob mir das noch gefiele! Ich muss sagen, ich wollte schon mit acht Jahren Zahnarzt werden, das ist genau mein Ding!“
Da stellt sich, wegen der gebotenen Abstinenz, die Frage, ob ethisch einwandfrei arbeitende Therapeuten und solche, die ihre Arbeit so richtig gerne machen, überhaupt eine Schnittmenge bilden können. Sich selbst als Person systematisch in den Prozess hineinzutragen und zugleich ständig wieder herauszunehmen, scheint mir ein Spagat der Sonderklasse zu sein, widersprüchlich, auf kontinuierliche Reflexion eigener Wünsche angewiesen. Im Dienste der eigenen Selbstfürsorge wollen wir aus unserer Arbeit ja auch Freude schöpfen - solange klar ist, um wen es am Ende geht.

Bei Abstinenz denkt oft der Laie und manchmal auch der Therapeut zuallererst an die Sexualität. Das Problem bei dieser Sichtweise der "Wahrheit" ist: Wir erkennen die Abstinenz dabei in ihrem wahren Umfang nicht. Wir verständigen uns stattdessen auf angenehme Kompromisse. Gerade die Frauen unter den Therapeuten glauben, wenn sie einen männlichen Patienten (oder, falls sie lesbisch sind, eine Patientin) nicht erotisch verführen, dann hätten sie ihre Abstinenzaufgabe erfüllt und könnten für den Rest ihrer beruflichen Tätigkeit mit moralischem Unterton die Sitten bewachen – die Sitten der anderen, vorzugsweise männlichen Kollegen. Dieser mir einseitig erscheinende Umstand legt nahe, nach anderen, leiseren Formen der Abstinenzverstöße zu fahnden. Und, tatsächlich, es gibt sie, sie fallen aber oft weniger auf. Denn sie verstecken sich gekonnt; sie entziehen sich dem Auge des Patienten wie auch des Therapeuten – häufig sind sie auch für die nicht ganz unbestechlichen, weil von der Bedürftigkeit des Patienten entlasteten Mitmenschen unsichtbar. So, um ein Beispiel aus vielen herauszugreifen, im Gewand der warm- und barmherzigen, engen und langjährigen therapeutischen Zweierbeziehungen, der als selbstverständlich empfundenen Therapieverlängerungen oder der zuweilen ein ganzes Jahrzehnt umspannenden Selbstzahlerbehandlungen, deren subjektive Bedeutung schier religiöse Dimensionen erreicht. So wichtig für einen Patienten zu werden, dass dieser gar nicht mehr von der Seite des Therapeuten weichen mag oder kann … ist eine höchst zwiespältige Sache.
Wie oft habe ich als Supervisorin diese Worte gehört: Diesen Patienten kann ich doch nicht einfach wegschicken! Dahinter steckt dann oft die der eigenen vermeintlichen Potenz entspringende Überzeugung, ihn damit ins Unheil zu stürzen. Darin inbegriffen ist häufig das Angebot einer therapeutischen Beziehung selbst dann, wenn man bei Lichte betrachtet keine günstige Prognose stellen kann. Der Therapeut entgeht der Gefahr, vom Patienten nicht mehr gemocht zu werden und mit der empfundenen eigenen Aggressivität eines Trennungsschrittes fertig werden zu müssen; man ist nett miteinander, rent a friend. Die (späten) Anlässe, eine Supervision aufzusuchen, sind meiner Erfahrung nach in diesen Fällen selten inhaltlicher Natur, denn es gibt keinen Reflexionsbedarf, Interventionen zu hinterfragen oder die Gegenübertragung zu verstehen. Wut, Ärger und Konfrontation sind ohnehin schon lange aus der therapeutischen Beziehung verbannt worden. Der häufigste Supervisionsanlass ist dann stattdessen, den im Versicherungssystem begrenzter Sitzungskontingente immanenten Druck zur Separation zwischen Patient und Behandler zu umgehen, indem nach Ratschlägen gesucht wird, die Bewilligung weiterer Sitzungen beim Gutachter durchzukriegen und das Maximum bei der Krankenkasse herauszuholen. Denn so könne man den Patienten schließlich nicht gehen lassen. Doch geht es hierbei zugleich auch oft um den Therapeuten, denn er will sich selbst ebenfalls nicht so gehen sehen, mit einem nur partiellen Therapieerfolg (hoffen wir´s!) und Verlust an Bedeutung nach lange gepflegter Zweisamkeit.


Bei dem Thema warnt mich, während ich dies schreibe, sogleich ein Bibelspruch: „Wer ohne Sünde unter Euch ist, der werfe den ersten Stein.“ Trotz der vielen Fallen, die uns der eigene Narzissmus aufstellt, scheint es mir lohnenswert, sich zumindest um Abstinenz zu bemühen.






Im Gebirge der Wahrheit kletterst du nie umsonst:
entweder du kommst schon heute weiter hinauf 

oder du übst deine Kräfte, um morgen 
höher steigen zu können" *


* beide Zitate aus: NIETZSCHE:  Also sprach Zarathustra Teil 3 – Der Wanderer


Doris Normann
HIP - externer Dozentenkreis

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