Samstag, 24. Juli 2021

Abschied, stufenlos aber ungern

“Da hast du aber nochmal Glück gehabt!”, schien mir schon lange paradox, wo es doch verwendet wird, wenn man in erster Linie ganz schön Pech gehabt hat. Irgendwas wird hier übersehen. Mir scheint, die Glückwünscher wollen sich beruhigen, dem Pechvogel etwas vorwerfen, aber das Pech, das Unglück wird mit einem Ruch von „selber schuld“ weggewischt. 
Ich habe das Gefühl, dass mit dem Trost-Gedicht “Stufen” von Hermann Hesse etwas Ähnliches auf ähnliche Art weggewischt wird. Was ist das für eine Forderung mit “muss” zu einer soldatischen Bereitschaft des Herzens zu Abschied und Neubeginn - ohne Trauer? Wieso muss hier Trauer vermieden werden? Und dann das geflügelte Wort aus den “Stufen”, der “Zauber” des Anfangs, “der uns beschützt” - vor was? Vor der Trauer? Das klingt für mich nach magischem Denken, nach Ungeschehenmachen, nach sanften Worten für ein “Augen zu und durch”. Da wird doch eine Stufe übersprungen?!
Wenn man hier die Stufen, bzw. Phasen nach Verena Kast heranzieht, landet Hesses Gedicht von der ersten Verleugnung direkt in der vierten vom neuen Weltbezug und überspringt dabei Emotionen und das Suchen nach dem Verlorenen, die Rückbesinnung. Das mag 1941 auch viel verlangt, zu schrecklich gewesen sein, die Augen aufzumachen. Andererseits meint ein anderes geflügeltes Wort, dass, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, barbarisch sei, gerade weil es vom eigentlichen Grauen ablenke.
Ablenkung scheint mir in den “Stufen” zu stecken. Wie soll man sich denn in “neue Bindungen geben”, wenn man doch an “keinem wie an einer Heimat hängen” soll? Vielleicht soll man sich aus dem Kopf schlagen, je anzukommen, zu Hause zu sein. Vielleicht ist es zu schön um wahr zu sein, sich mit oder bei jemandem ganz zu Hause zu fühlen. Klingt für mich pseudo-autonom, die Verlockung des Schönen aus Angst vor der Enttäuschung zu vermeiden, um so “heiter Raum um Raum durchschreiten” zu können, mit einem Lächeln auf den Lippen, die Scheuklappen justiert, altersmilde, mehr Treppenlift als Schreiten. Als ob Hesse Angst hätte, wenn er sich ganz hingäbe, der Ruhe, dem Ankommen, würde er niemals wieder hochkommen. Da möchte ich ihm lieber entgegenrufen: “Geh nicht gelassen in die gute Nacht, / Brenn, Alter, rase, wenn die Dämmerung lauert; / Im Sterbelicht sei doppelt zornentfacht.” 
Wenn er Psychoanalytiker wäre, dann wohl eher in einem alt-freudschen Sinne, nach dem Reifung überspitzt gesagt bedeutet, sich in die Isolation zu individuieren, während Selbstpsychologen das Streben nach und das zur Verfügung stellen von Selbstobjektfunktionen (Anerkennung, Responsivität, Trost, Beruhigung, Bewunderung etc.) als ein lebenslanges verstehen, also bei Hesse dann eher “Tapferkeit” denn Zuwendung als Tugend. Ist das strukturell gesehen noch “Variabilität der Bindung” oder schon “fehlende Objektkonstanz” mit den bereits benannten Abwehrmechanismen? Da steckt vielleicht auch noch Spaltung dahinter, wenn dem “heimisch sein” nur “lähmende Gewöhnung” und nicht auch die Stärke einer Basis, freundschaftliche oder familiäre Unterstützung zugebilligt werden darf: Verleugnung von Bindung, Reifung als totale Individuation: Don’t look back. Als ob man ruhiggestellt werden sollte. Am Ende ist doch jeder eine Insel, denn jeder stirbt für sich allein.
Nein, das sehe ich nicht so. Außerdem gehören zu einem Abschied zwei, oder vier, wenn man die Introjekte mitzählt, also das, was von anderen in mir und von mir im anderen bleibt, wenn sie gehen. Bei Hesse bleibt die andere unbenannt, nur mit einem Wort taucht ein Mensch auf: “keinem”. Das andere verbirgt sich in und hinter “Räumen”. Wo bleibt da das Mitgefühl? Wie fühlt sich denn der andere, bei solch einem Abschied, bei dem nur die Lebensstufen und der Anfang Thema sind? Was gehen mich meine Bindungen von gestern an? Na, schönen Dank.
Der Preis für diesen zen-buddhistischen Gleichmut scheint mir die endlose Ewigkeit der Eintönigkeit zu sein, denn die Gefühle machen die Erinnerungen lebendig. Wo sie vermieden werden, bleibt der Nachgeschmack schal, wo Aufbruch Selbstzweck wird, bleibt nichts hängen. Bei der Abwehr von Trauer, Wut, Gefühlen insgesamt, die mir in den “Stufen” zu stecken scheint, wird mit der Angst vor der Trauer, dem Halten, nicht Loslassen wollen, auch gleich der Zorn übersprungen. Dabei ist es gerade die Aggression, die den Fortschritt, die Entwicklung determiniert (von wegen aggressus: genähert, an jemanden gewendet; beginnen, versuchen - und angreifen = berühren?). Der letzte Übergriff in diesem letztlich stufenlosen Positivismus, der Satz, in dem für mich heute das Gedicht Hesses zusammenschnurrt ist: “Alles gut.” Da stellt der Sprecher bedingungslos die Abwesenheit von Negativem fest, für sich und gleich für das Universum. Da braucht es auch kein Verb mehr, weil sich in diesem Wohlfühl-white-Space Bewegung erübrigt. 
Eine Supervisorin kritisierte Beruhigungsversuche von uns Therapeuten bei leidenden Patienten mit der Frage, wen wir denn beruhigen wollten, uns oder den Patienten. Die Verlockung besteht, auf Ressourcen, auf Gelungenes in der Vergangenheit, auf bestehende gute Beziehungen hinzuweisen oder -fragen, wenn ein Patient wegen eines Abschieds untröstlich ist. Aber diese Supervisorin fokussierte auf das gemeinsame Aushalten von Ohnmacht, auf den Moment des Mitschwingens, des Annehmens von Trauer durch einen Verlust, das Respektieren des Gefühls, dass da etwas weg ist und nie wiederkommt. Das kann eine gewaltige Fahrt nach unten sein, eher Fahrstuhl als Treppenhaus, ein Gefühl, wie ein Ball im Bauch, als ob es keinen Boden gäbe. 
Bei Abschieden, Verlusten mag es verschiedene Stärken geben, wohl auch nach den Schwächen derjenigen, der sie erlebt. So kann man Tod, Umzug, Beziehungsende aufzählen und eine Rangreihe versuchen, aber ich glaube, dass im Abschied das Beziehungsende immer das ist, was die seelische Verletzung ausmacht (weshalb “ich bin ja nicht aus der Welt”, “man sieht sich immer zweimal im Leben” den physischen Abschied überbetonen und dabei den Abschied von einem gemeinsamen Lebensabschnitt übertünchen). Je nach der Schlagstärke des Abschieds kann man wohl von einem Trauma sprechen. Mir ist der Zusammenhang wichtig, weil in der Trauma-Entstehung und -Behandlung das Moment der Invalidierung, also der Nichtanerkennung des Traumas, Nicht-Glauben bei Berichten, Herunterspielen, wohl unstrittig als sehr bedeutsam und wirkungsvoll gesehen wird. Da kann ich mir gut vorstellen, dass ein nicht beachteter, ein abgelehnter Abschiedsschmerz ähnliches verursacht: ein Alleinsein mit dem Erlebnis, ein in sich drehen, sich zurückziehen; im Grunde eine Bestätigung der Ohnmacht, gerade weil das Gegenüber sie verleugnet, denn “des Lebens Ruf an uns” wird ganz bestimmt irgendwann enden: Hier irrt Hesse, der Missionarssohn, deutlich verleugnend - und quasi final. 
Zumindest so lange das Leben für beide weitergeht, ist doch in jedem Abschied auch ein Anfang, auf den zu schauen sich lohnt, solange es nicht nur ein Blick weg vom doch bestenfalls traurigen Abschied ist. Gerade, wenn ich nicht weiß, wohin die andere geht, bleibt mir nur, alles Gute zu wünschen, zu zeigen, dass es mich trifft, dass ich im Gedächtnis behalte und zu hoffen, selber behalten zu werden. “Ich sitz einfach hier ohne einen leisen Hauch zu wissen, was passiert. Und ich schreibe dir. Ich denke mir nichts aus nur nach, wie ich es formulier.” (Clueso)

Arne Holst,
HIP Ausbildungsteilnehmer Jhg. 2016

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