Freitag, 28. Februar 2020

Ist es wieder soweit?!


Add-on  mit  interaktioneller  Potenz



„Ist es wieder soweit?!“ Diesen oder einen ähnlichen Ausspruch höre ich mit großer Zuverlässigkeit alle fünf Sitzungen von meinen PatientInnen. Ich lächle vielleicht und nicke, während ich versuche, einen entschuldigenden Gesichtsausdruck zu vermeiden. In den anschließenden Äußerungen zeigt sich etwas mehr von meinem Gegenüber: „Schon die 25. Sitzung?!“ vorgebracht in erleichtertem oder ungläubigem Tonfall, manchmal begleitet von erschrocken geöffneten Augen. Eine andere Patientin öffnet verlegen ihre Tasche mit den Worten: „Diesmal verliere ich die Zettel hoffentlich nicht…“, gefolgt von einem seufzenden „Ich weiß nie, was ich da ankreuzen soll.“
Nach jeder fünften therapeutischen Sitzung sind Patient und Therapeut am HIP angehalten, einen ausführlichen Fragebogen zu beantworten. Im Verlauf einer Langzeittherapie bewerten PatientInnen auf diese Weise unter Umständen zwanzigmal ihren therapeutischen Fortschritt, ihren Einfluss auf den Therapieverlauf, die vergangene Sitzung ganz konkret und die therapeutische Allianz. Mehr oder weniger kommentiert wird dieses Prozedere einfach auf sich genommen – ähnlich der Anwesenheit der Kamera, die schon in den ersten Stunden immerhin auf Patientenseite zumeist unsichtbar geworden zu sein scheint.
Das heißt aber nicht, dass dieses Vorgehen keine Auswirkungen hat, etwas mit den Behandlungen macht, mit der Beziehung zwischen Patientin und Therapeutin. Etwas, worüber kaum gesprochen wird. Schließlich arbeiten wir an einem universitätsklinischen Aus- und Weiterbildungsinstitut, dessen Forschung einen wichtigen Beitrag für die psychodynamische Psychotherapieforschung leistet. Die Vermessung der (Ausbildungs-)Therapien scheint da nicht nur nahezuliegen, sondern im Sinne der Wissenschaft geradezu unerlässlich zu sein. Auch auf therapeutischer Seite wird deshalb brav alle fünf Sitzungen eine umfassende Einschätzung der aktuell stattgefundenen Stunde, der therapeutischen Beziehung und des Zustands des Patienten abgegeben. Geschieht dies nicht – zwischen Raumwechseln, Dokumentation, Supervisionen, eigener Forschungstätigkeit, Arbeit in der Beratungsstelle, womöglich noch Kindern oder gar Privatleben soll so etwas vorkommen – wird man freundlich zur Abgabe gemahnt.
‚Diese Stunde war gut … schlecht; nützlich … wertlos; voll … leer; unangenehm … angenehm; außergewöhnlich … gewöhnlich‘ – einige Möglichkeiten unter 11 Items, sich von Patienten- und Therapeutenseite der vergangenen Sitzung anzunähern. Vermutlich weiß jede Ausbildungskandidatin und jeder Ausbildungskandidat, dass Fragebögen schnell und ohne großes Nachdenken zu beantworten sind. Eine intuitive Einschätzung ist gefragt. Fängt man an, länger über diese Gegensatzpaare nachzudenken, wird es auch schwierig: Ist es nun nützlich, wenn ein sehr leistungsorientierter Patient während der Prüfungsphase die Sitzung nutzt, um etwas aufzutanken und „heute mal weniger arbeiten“ zu wollen? Ist eine Stunde leer, wenn eine Patientin, die gerade beginnt, ihre idealisierten Eltern infrage zu stellen, immer wieder lange schweigt und mit Gefühlen kämpft? Und wie gut ist es eigentlich, wenn eine impulsive Patientin während der Sitzung phasenweise durch den Raum läuft, um ihre Wut in den Griff zu kriegen? Mittelgut, weil sie immerhin nicht rausrennt oder eher schlecht, weil es doch eigentlich üblich ist, die Therapie im Sitzen abzuhalten? Und was passiert, wenn ein Patient zu Weihnachten Zimtsterne mitbringt? Angenehm oder eher nicht?
Kaum beachtet ist auch das Agierfeld, das sich hier dem Patienten (und auch der Therapeutin) eröffnet. ‚Ich glaube, meine Therapeutin mag mich.‘ ist eine von 12 Fragen zur therapeutischen Beziehung. Gekrönt von der abschließenden Bewertung: ‚Ich glaube, dass es richtig ist, wie wir an meinem Problem arbeiten.‘ Auf Therapeutenseite geht es neben den gespiegelten Fragen (‚Ich glaube, mein Patient mag mich.‘) direkter zu: ‚Ich mag meine Patientin.‘ – Selten? Immer? Würde man sich über-ichmäßig überhaupt trauen, nicht nur zu denken, sondern auch schwarz auf weiß festzuhalten, dass man diese eine Patientin vielleicht weniger mag als die vier anderen? Oder immer? Klingt auch irgendwie undifferenziert. Und auf Patientenseite? Man stelle sich eine Patientin in einer schwierigen Übertragungskonstellation vor, der in Stunde 20 langsam immer bewusster wird, wie wichtig die Sitzungen für sie zu werden drohen, möglicherweise auch die Therapeutin. Während sie in der Sitzung bemüht ist, ihre Ambivalenz hinter einem ausführlichen Bericht über die Arbeit und ihre Chefin zu verbergen, heißt es in der anschließenden Zwischenevaluation: ‚Ich spüre, dass meine Therapeutin mich schätzt.‘ – selten. Manchmal ist es vielleicht schlicht zu „gefährlich“, das anzukreuzen, was man eigentlich spürt oder sich wünscht. Und obwohl dem theoretisch geschulten Therapeuten sicherlich klar ist, dass es sich dabei um Übertragungsphänomene handelt, kann man bei der Durchsicht solcher Bögen schon mal kurz weiche Knie kriegen.
Eine andere Patientin nimmt mit chronischen Rückenschmerzen und leicht depressiver Symptomatik eine Therapie auf. „Wenn die Rückenschmerzen nicht wären, wäre alles gut.“ Kindheit „total harmonisch“, mit dem Partner und den Kindern „alles gut“, Halbtagsstelle „läuft“. Nach 25 Sitzungen fängt die Patientin an, die Sache kritischer zu sehen. In der Kindheit war vielleicht doch nicht alles gut. Und der Preis dafür, dass sie seit 20 Jahren im gleichen Büro sitzt und zuhause den Haushalt und die Kinder schmeißt, um dem Mann den Rücken frei zu halten, ist eigentlich ziemlich hoch. Langsam breitet sich in der Patientin Trauer aus über die nicht gelebten eigenen Träume. Sie fragt sich, wer sie eigentlich ist. Und wird in den Fragebögen symptomatisch immer „schlechter“. Weitere 15 Sitzungen später beginnt sie, sich über die Therapeutin zu ärgern, empfindet Wut – etwas, das von der Therapeutin vielleicht begrüßt wird. Und, zack, ist die therapeutische Beziehung fragebogentechnisch im Keller. Prozesse, die sich auf Fragebogenebene ganz anders darstellen als vielleicht im therapeutischen Empfinden. 
Bekommt die Therapeutin die Einschätzungen ihrer Patienten überhaupt mit? Und was macht sie dann damit? Informiert man seinen Patienten über das Durchsehen der Ergebnisse? Oder lieber nicht? – Nur in letzterem Fall kann man halbwegs sicher sein zu erfahren, was der Patient „wirklich“ denkt. Allerdings zum Preis einer gewissen Asymmetrie, denn dem Patienten sind die Antworten seines Therapeuten in der Regel nicht bekannt. Und wie wirkt es auf die Patientin („Sie haben ja sicher im Fragebogen gesehen, dass es mir nach der Sitzung nicht so gut ging.“), der man mitteilt, dass man ihre ausgefüllten Bögen noch nie angeschaut hat? Eine interessante „Lösung“ der Frage des Ernstnehmens der Fragebögen ist mir neulich begegnet, als eine Kollegin berichtete, dass sie einen Patienten habe, der die Fragebögen trotz mehrfacher Aufforderung geflissentlich ignoriere. Sie habe diesem schlichtweg vier Bögen auf einen Schlag gegeben: „Füllen Sie die einfach mal aus, dann sind Sie’s erstmal los.“
Die Ergebnisse der Fragebögen werden allen TherapeutInnen zur Verfügung gestellt. „Das fühlt sich an wie Noten.“, sagte ein Kollege über das Lesen der Fragebögen. Viele begegnen dem, indem sie die Fragebögen gar nicht anschauen. Manchmal begleitet von der bangen Frage, wer diese Fragebögen denn dann ansieht. Wenn man dann weiterdenkt, dass auch noch jemand die entsprechenden Videos dazu sieht... Oder kritische Gedanken werden wegrationalisiert, die mögliche interaktionelle Potenz von Fragebögen einfach verleugnet. Man müsse das Ganze schließlich über den Verlauf anschauen… In solchen Fällen könnte es sinnvoll sein, die unterschiedlichen Bedeutungen auseinanderzuklamüsern. Das würde eine tatsächliche Auseinandersetzung verlangen. Für solche Reflexionen bleibt im Ausbildungsalltag wenig Zeit. Auch in den Supervisionen sind andere Fragen oft drängender. Über dieses Thema nicht zu sprechen oder zu behaupten, es würde einen gar nicht betreffen, bedeutet gleichzeitig aber nicht, dass es nicht doch eine Wirkung hat. 
Es kann nicht darum gehen, Fragebögen mit Fragebogen-Denke zu begegnen: ‚Das Austeilen von Fragebögen im psychotherapeutischen Kontext finde ich gut / schlecht / keine Haltung.‘ Es geht darum, sich Gedanken darüber zu machen, was für Bedeutungen und Auswirkungen damit einhergehen können und diese Fragen auch unter den AusbildungsteilnehmerInnen in den Diskurs zu holen: Was kann durch Fragebögen abgebildet werden und was nicht? Welche Möglichkeiten ergeben sich durch das regelmäßige Austeilen von Fragebögen und zu welchem Zwecke verwendet mein Patient sie gegebenenfalls (unbewusst) noch? Und wie erlebe ich das eigene Ausfüllen und auch den Erhalt der Patienten-Antworten? Findet über diese Fragen keine Auseinandersetzung statt, ja, werden sie nicht einmal gestellt, bleibt womöglich Wertvolles genauso wie Schwieriges unentdeckt. Es handelt sich bei der Evaluation der Ausbildungstherapien nicht nur um ein universitär wissenschaftliches Add-On, das im psychodynamischen Therapiealltag vernachlässigt werden kann, sondern um einen Zugangsweg, mit dessen möglicher interaktioneller Potenz man sich als Therapeutin auseinandersetzen kann. Es ist eben „nicht bequem, Gefühle wissenschaftlich zu bearbeiten“ (Freud 1930*).



*  Freud, Sigmund (1930). Das Unbehagen in der Kultur, Frankfurt a.M. (Fischer 2009), S.31.


Charlotte Schieber,
HIP Ausbildungsteilnehmerin Jhg. 2017

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