Sonntagabend. Ein Blick in den Kalender: In der nächsten Woche sechs Patienten, eine Gruppe, eine Einzelsupervision, eine Gruppensupervision, einmal Lehrtherapie, einmal Intervision, ein Seminar, eine Kasuistik. Kein Wochenendseminar, auch keine Gruppenselbsterfahrung, die ist nämlich gerade vorbei.
Was im Laufe der Ausbildung von einem verlangt wird, ist zu Beginn höchstens rational nachvollziehbar. ‚Therapeutische Haltung‘, ‚Regression‘, ‚therapeutische Ich-Spaltung‘, ‚projektive Identifikation‘ – lauter Begriffe, die nach Analyse-Lexikon klingen, aber nicht mit Erfahrungsinhalt verbunden werden können. Die wenigsten wissen, wie sich Regression anfühlt und wie es sich anfühlt, innerhalb einer Woche, oft auch innerhalb eines Tages zwischen so grundsätzlich verschiedenen Rollen zu wechseln, wie sie der Ausbildungsplan vorgibt: Therapeut*in – Supervisand*in – Lehranalysand*in / Lehrtherapiekandidat*in – Kolleg*in – Ausbildungskandidat*in.
Eine Zäsur, an der die Rollenfrage drängend wird, scheint mir der Beginn der ambulanten Behandlungen zu sein. Zuvor waren andere Fragen wichtiger: Wo finde ich eine PPiA-Stelle? Werde ich davon meine Miete und die Ausbildungskosten bezahlen können? Wie soll ich ohne spezifisches psychodynamisches Wissen Gruppen leiten und Therapien durchführen? Wie schreibt man eigentlich einen Arztbrief? Und warum scheinen fast alle in meinem Ausbildungsjahrgang das alles ganz mühelos zu bewältigen? „Einfach machen“ ist hier die Devise; so wird es unter den PPiAs weitergegeben und scheint in vielen Fällen gut zu funktionieren. Mit erstaunlichem Selbstbewusstsein werden stationäre Gruppen schwer psychiatrisch erkrankter Patient*innen geleitet, Suchtpatient*innen versorgt und Paargespräche geführt. Dann beginnen – nach 1800 Stunden klinischer Arbeit – die ambulanten Behandlungen. Und jetzt?
Verwirrung. Und plötzlich viel weniger Intuition.
Das heißt, sie ist immer noch da, die Intuition. Aber mit der bangen Frage verknüpft, ob sie „richtig“ ist, zur – mittlerweile gelernten – Theorie passt, zur Supervisor*in.
Spätestens um die Zäsur der Behandlung ambulanter Patienten herum fragen sich auch die Letzten zum ersten Mal: Was mache ich hier eigentlich? Kann ich das? Schaffe ich das? Und wie soll das alles zusammen gehen?
Mit den sogenannten „ambulanten Fällen“ fängt etwas Neues an – das, was für die meisten Therapeut*innen nach Ende der Ausbildung Alltag wird. Während man auf der Station schon „die Therapeutin“, „meine Therapeutin“ oder „Frau Doktor“ war, geht es jetzt auch um „meine“ Patient*innen, selbst wenn rechtlich die Supervisor*in, bzw. das Ausbildungsinstitut verantwortlich sind. Für die Ausbildungskandidat*in eine Ausbildungstherapie, ist es für die Patient*in vielleicht die einzige Therapie. Stellung und Wichtigkeit zu Beginn für beide Seiten kaum abschätzbar.
Viele schieben die neue Rolle erstmal ein paar Wochen vor sich her oder fangen „ganz vorsichtig“ mit einer Patient*in an. Ich versuchte das zu umgehen, indem ich vor der ersten Therapiestunde alles las, was die Bibliothek zum Thema „Erstgespräch“ hergab – in Ermangelung dezidiert tiefenpsychologischer Literatur v.a. analytische Auseinandersetzungen. Ergebnis: Ich schwieg. Nach 20 Minuten schwieg auch der Patient. Verunsichert. Ich versuchte, aufmunternd zu gucken – auch mich selbst aufmunternd, schließlich wird das Ganze auf Video aufgezeichnet, das Über-Ich guckt also unerbittlich mit. Währenddessen fragte ich mich, was ich hier eigentlich tue, dachte an die Supervisorin, an das Video und daran, dass sich dieses Erstgespräch so vollkommen anders anfühlte als die vielen Ambulanz-Erstgespräche. Ich spielte Therapeutin.
In den letzten 500 Therapiestunden hat sich Vieles verändert. Auch die Denk- und Fühllähmung grüßen über längere Phasen nur von Weitem. Und dennoch taucht sie phasenweise immer wieder auf, die Frage, was ich hier eigentlich tue. Sie hat sich aber in ihrer Ausrichtung verändert: Waren es zu Beginn v.a. technische Fragen, frage ich mich jetzt immer mal wieder: Kann ich das als Person? Wo sind meine eigenen (neurotischen) Anteile in den Therapien? Was ist das eigentlich für ein Beruf? Kann man den 30 oder 40 Jahre lang machen? Wird man nicht furchtbar einsam? So innerlich?
Zum Glück gibt es Supervision. Alle vier Sitzungen, in Gruppen oft häufiger. In guten Phasen sehr hilfreich, stiften auch die Supervisionen gelegentlich weitere Verwirrung: Die Supervisor*innen (erfahren, weise, belesen, viel älter, oft analytisch arbeitend – Projektionen, aber nachhaltig) sagen alle etwas Unterschiedliches: „Sie sind sehr mütterlich.“ „Sie könnten vielleicht etwas mitfühlender sein.“ „Sie sind sehr nah am Patienten.“ „Sie sind da sehr distanziert.“ „Langsam!“ „Das geht aber wirklich sehr langsam.“ „Die grundsätzliche Haltung ist Wundern.“ „Ich wundere mich, dass sie so wenig über die Biographie wissen.“ Je mehr Supervisor*innen man regelmäßig konsultiert, desto verwirrender wird es – neben aller Bereicherung.
In welcher Rolle sitzt man als Ausbildungskandidat*in in der Supervision? Gerade eben noch „die Therapeutin“, fühlt man sich hier manchmal eher wie ein Schulmädchen. Unter den Ausbildungskandidat*innen fallen Sätze wie: „Ich gehe jetzt zur Supervision. Da muss ich das dann mal beichten.“ „Ich glaube, davon zeige ich nachher in der Supervision lieber kein Video.“ Wie eine Therapeut*in, geschweige denn wie eine Kolleg*in fühlt es sich zumindest in Phasen, in denen das therapeutische Selbstwertgefühl brüchig ist, oft nicht an. Mit Intuition kommt man in der Supervision nur bedingt voran. Da werden Fragen gestellt, die mit Mut nicht zu beantworten sind: Welcher Konflikt liegt vor? Wie nennt man das, was in der Beziehung mit Mutter und Vater nicht gelingt? Trotzdem an der Intuition festzuhalten und diese durch Theorie (oder die Imitation der Supervisor*in / die Autorität der Zunft) nicht zu ersetzen, sondern nur zu ergänzen, ist herausfordernd.
Aber es gibt ja auch noch die sogenannte Lehrtherapie. Hier ist Raum, von dieser Verwirrung zu erzählen und sich nebenbei und schließlich doch hauptsächlich mit seinen eigenen Neurosen oder – schlimmer, weil unter angehenden Therapeut*innen nicht en vogue – strukturellen Untiefen zu befassen. Theorie hat hier weniger zu suchen und wer sie in der Selbsterfahrung zu sehr sucht, muss sich fragen, was das zu bedeuten hat. Neben all‘ dem Schönen, was in Therapien passieren kann, kann jede Ausbildungskandidat*in hier erfahren, wie schmerzhaft Therapie sein kann. (Man kann das natürlich mit Oberflächlichkeiten zu umgehen versuchen. Es bleibt aber unklar, ob sich die Rollenverwirrung durch reines Absitzen klärt…) Und nebenher läuft die bange Frage mit: „Bin nur ich so? Und kann ich so Therapeutin werden?“ Nach 50 vorgeschriebenen Stunden gibt es darauf selten eine befriedigende Antwort und es wundert nicht, dass viele Ausbildungskandidat*innen die Selbsterfahrung schließlich (liegend) erweitern. Vielleicht braucht es diesen Raum, damit das zwischen verschiedenen Über-Ichen (dem eigenen, dem der Supervisor*innen, dem der „Zunft“) eingeklemmte Ich wieder atmen und sich entdecken kann.
Im ausbildungstherapeutischen Tagesablauf geht es manchmal im Galopp durch die Rollen, durch Regressionstiefen, durch Über-Ich-Konstellationen und andere Abgründe. Fast alle Ausbildungskanditat*innen müssen „nebenher“ noch Geld verdienen und / oder eine Familie versorgen. Sie machen Yoga, Meditation oder engagieren sich politisch – Selbstfürsorge und so. An vielen Tagen läuft’s. An einigen nicht, meistens gleich mehrere Tage hintereinander. Dann schlägt die Verwirrung auf mehreren Ebenen zu und es ist nicht leicht, darüber zu sprechen: Was, wenn es nur mir so geht? Was, wenn nur ich gelegentlich sonntags abends beim Blick in den Kalender weiche Knie kriege?
Die Ausbildung eröffnet ein Spannungsfeld, aufgespannt zwischen verschiedenen, oft gegensätzlich scheinenden Rollen, schmerzhaften und begeisternden Momenten und grundlegend verändernden Erkenntnissen. Die eigene Denk- und Fühlfähigkeit dabei nicht nur zu behalten, sondern so zu erweitern, dass sie dem eigenen Selbst entspricht, erscheint mir eine große Herausforderung. Und in alledem sind manchmal die Spielplatzgespräche die wichtigsten, um sich zu vergewissern, dass es neben der Ausbildung noch etwas ganz anderes gibt, das zählt.
Danke für die Einblicke! Treffend und ermunternd. Und motivierend.
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